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Dichters Publius Vergilius Maro12, in dessen Werk Hebel „zu Hause" war. Wörtlich
heißt es dort: „silvestrem tenui musam meditaris avena" - „Du übst auf der dünnen
Rohrpfeife ein ländliches Lied".13 Man könnte frei in Anlehnung an das Wort
„silvestris" auch mit „ein Wälderlied" übersetzen (man denke an den Schwarzwald
, Nigra Silva. Hebel kann die Gedichte immerhin als „Wälderbüeblein" bezeichnen
, B 148). Das Zitat verweist demnach die folgenden 32 Gedichte, wie es
aussieht, in den Zusammenhang römisch-antiker Hirtendichtung, die das erstrebte
friedliche Leben auf dem Land statt in der (politischen) Bewegtheit der Stadt
(Rom) vor Augen malt. „Was ganz bäuerlich-alemannisch scheint, ist zugleich tradierte
antike Dichtung."14 Auf die Idee muss man kommen: Überhaupt auf alemannisch
und dann noch gar im klassischen Versmaß des Hexameters zu dichten.
Aber hat Hebel dies auch „ideell" gemeint, von der „Weltanschauung" her: Heidnische
Hirtenidylle im christlichen Oberland?
Hebel hat nun, das darf man nicht übersehen, das Zitat umformuliert. Er versetzt
es in die erste Person Singular. Er sagt also: Ich übe auf schlanker Flöte (gemeint:
der alemannischen Sprache im schmalen Gedichtbändchen) ein ländliches Lied (aus
der Welt des Schwarzwaldes und Oberlandes, wie sie in den folgenden Gedichten erscheint
). Dadurch wird aus ihm selbst der im Original angesprochene Hirte, der sich
am Flötenspiel ergötzt. Hebel macht sich selbst zum „Hirten". Nun ist beachtenswert
: Das Wort „pastor" ist doppeldeutig. Die klassische Philologin Gertrud Staffhorst
betont, dass Hebel „mit dem Wort ,pastor' spielt und dabei aus der Sphäre des
Seelenhirten, des eigenen Berufsstands also, hinüberschwenkt in die Sphäre der Bu-
kolik."15 Ist es aber nicht gerade andersherum? In dieser unerhört neuartigen Dichtung
spricht ein „pastor", ein Hirte, der auch in Wirklichkeit eben ein „Pastor" ist
bzw. sein will: Er übt in diesen Gedichten seinen Beruf aus als Hirte einer Landgemeinde
. Hebel versetzt die heidnische Muse ins christliche Oberland. Er will sich
nicht nur vorstellen als „Vergil aus dem Wiesental", sondern auch als Hirte, d.h.
Pfarrer zu erkennen geben. Hebel amtet also in und mit den Gedichten als Landgeistlicher
in seinen Funktionen als Prediger und Seelsorger, als Volksaufklärer, als
Beobachter und Schilderer dieser Welt zwischen Feld und Wald.
Das Zitat mag zudem ein verspielt-versteckter Hinweis sein auf den anonymen
Dichter: Er ist ein fern der Heimat weilender Hirte.16 Wer sich wie Hebel in Ovids
Werk auskannte, erinnerte sich auch an den nahen Zusammenhang: Der Sprecher
wundert sich über die „Gelassenheit" des Flötenspielers inmitten der politischen
Wirren. Dieser entgegnet ihm: „deus nobis haec otia fecit", frei übersetzt: Gott hat
uns diese Muße, die Entspannung dazu ermöglicht. Sie ist also ein Gottesgeschenk
. Hebel wünscht sich dieselbe Muße und fantasiert sie vornehmlich im
Landpfarramt.17
4. Nun findet sich eine weitere einschlägige Äußerung Hebels, wieder auf Latein
, genau zu diesem Zusammenhang, die, soweit ich sehe, bislang nie hinzugezogen
wurde, vielleicht, weil sie in dem in Gänze unübersetzten Brief an Joseph Albert
von Ittner untergeht. Sie unterstützt meine Deutung. Er schreibt dem Direktor
119
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