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Am Abend des 16. Februar, seines eigenen Geburtstages, fuhr
Scheffel, der sich erst nach einigem Zögern zur Reise entschlossen
hatte, nach Offenburg und wanderte am 17. über Gengenbach und
Biberach nach Zell, wo er am frühen Nachmittag anlangte. Emma
wohnte im „Hirschen". Als sie am Abend in das Lenzsche Haus hinüberging
, trat ihr der Vetter im Rokokoanzug entgegen und überreichte
ihr einen Veilchenstrauß. Man scherzte, tanzte, trank; Emma
in voll erblühter Jugendschönheit war die umschwärmte Königin
des Festes. Der Abend selbst und anderentags die Fahrt mit der
Kusine durch das schneebedeckte Kinzigtal — das alles entzündete
des Dichters erregte Phantasie zu einem der großartigsten, freilich
auch schmerzvollsten seiner Gedichte, der Ballade „Irregang". Der
Spielmann, der ruhelos von Ort schweift, der Geliebten zur Hochzeit
mit einem fremden Manne auffiedeln muß und schließlich auf
Bergeshöhe im wilden Schneegestöber den „Hochzeitsschlaf" sucht
und findet, wird zum Abbild von Scheffels eigener Herzensnot, seiner
kaum mehr zu dämmenden Leidenschaft und inneren Verzweiflung.
Die Schauplätze des „Irregang" sind unschwer als jene Stätten zu
erkennen, die die Reisenden auf der Fahrt von Zell nach Offenburg
berührten: Zell, Biberacher Berg, Gengenbach und Schloß Ortenberg.
Die Verhältnisse hätten, zumal Scheffel im März 1860 durch die
Abweisung seiner überstürzten Werbung um Julie Artatria einen
neuen Nackenschlag erlitten hatte, unweigerlich zur Katastrophe
geführt, wenn des Dichters Mutter nicht Mackenrodt ins Vertrauen
gezogen und bald danach das Leben nicht selbst eingegriffen hätte.
So niederschmetternd ihn zunächst auch die Kunde traf, Emma werde
mit ihrem Gatten nach Rußland übersiedeln, so rückhaltlos er seinen
Schmerz darüber in dem in „Frau Aventiure" übergangenen Gedicht
„Von Liebe und Leben scheidend" ausblutete; die räumliche und
zeitliche Distanz, die Emmas Ubersiedlung hervorrief, übten allmählich
eine lindernde Wirkung. Vergessen konnte Scheffel Emmas Bild
allerdings nicht. Im Gegenteil, als die 1864 geschlossene Ehe mit
Karoline Malzen bald zu einer Trennung der beiden Ehegatten führte
, erschien es ihm nur in um so leuchtenderen Farben.
Abermals gereift, doch auch davon überzeugt, daß sie einander
brauchten, suchten, begegneten sich der Dichter und Emma Heim
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wieder. Die „spezifische
Schwere" des Daseins legte freilich auch diesmal ihre Schatten über
ihr Verhältnis, um nur in glücklichen Momenten des Vergessens zu
weichen. War Emma durch den frühen Tod ihres Gatten zwar wieder
frei geworden, Scheffel blieb gebunden, gebunden durch eine
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