http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1960/0293
weckt. Zudem war es die Zeit, als das soziale Gewissen erwachte und die Bestrebungen
der Sozialdemokratie den Argwohn der Regierungen erweckten. Aufgrund
der im Dienst erworbenen und durch mannigfache Befragungen vervollständigten
Kenntnisse hat Wörishoffer die Lage im gesamten Großherzogtum dargestellt und
noch einen Exkurs über das nördliche Tabakindustriegebiet (Wiesloch, Schwetzingen
, Hockenheim) beigefügt. Genauere Untersuchungen, auch über das ober-
badische Gebiet, sind in der Folgezeit erschienen; Autoren der verschiedensten Herkunft
, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber haben weiteres Material beigesteuert
und die in Frage kommenden Maßnahmen zur Abstellung der Mißstände
erörtert.
Bis zum Beginn des ersten Weltkrieges waren freilich keine durchgreifenden
Änderungen erzielt worden, von einiger Verbesserung der Arbeitsbedingungen
und Abstellung der ärgsten Ungleichheiten in der Entlohnung abgesehen. Der Ernst
der Lage war nach dem Ende der Inflation nicht mehr zu verkennen. Im Juli 1924
wurde im Landtag die folgende förmliche Anfrage eingebracht: „Ist der Regierung
bekannt, daß die Löhne der Tabakarbeiter sich weit unter dem Existenzminimum
bewegen und die Beschäftigungsverhältnisse sich in den letzten Jahren außerordentlich
verschlechtert haben? Welche Maßnahmen glaubt die Regierung ergreifen zu
können, um die in den Folgen drohende Gefährdung für die wirtschaftliche und
gesundheitliche Verelendung der Betroffenen abzuwenden?" Die Aussprache über
den Antrag ergab, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse durch schlechte Löhne und
Arbeitslosigkeit gekennzeichnet waren. Auch die hygienischen Zustände wurden bemängelt
. Der Landtag beschloß, die Regierung möge dem Landtag einen ausführlichen
Bericht „und im Anschluß daran Vorschläge zur Verbesserung der bedauerlichen
Lage dieser Arbeiterschaft vorlegen". Der vom Badischen Gewerbeauf-
sichtsamt daraufhin bearbeitete Bericht erschien 1925 im Druck.
Dank der sehr ausgedehnten und gründlichen wissenschaftlichen Literatur ist es
möglich, den Stand der Tabakarbeiter in sozialer Hinsicht zu erfassen, wenn auch
der Bericht von 1925 im Vorwort sagt: „Die Illusion, daß es uns gelingen könnte,
ein solches Gebiet wie die soziale Lage einer Bevölkerungsgruppe vollständig und
in allen Einzelheiten ,wahr' zu erfassen, ist zerstört. Der menschliche Geist ist
hierzu nicht in der Lage, und es kann sich für uns nur darum handeln, daß wir das
Typische und das wesentlich Bestimmende herausgreifen, gewissermaßen an Musterbeispielen
die Verhältnisse schildern und dann vielleicht noch angeben, für
welchen Bereich diese Musterbeispiele gelten." Unter Beherzigung dieser Worte
soll die soziale Lage der Zigarrenarbeiter der Ortenau in den letzten hundert
Jahren betrachtet werden.
Oben ist dargelegt, daß die Tabakanbaugebiete Badens auch Standorte der Tabakindustrie
sind. Ganz vorzugsweise sind es die Dörfer, in denen sich die Zigarrenfabriken
finden, so daß oftmals die Amtsstadt einen sehr viel geringeren
Teil an dieser Industrie aufweist als die Landorte des Bezirks. Ein Blick auf die
statistischen Ergebnisse von 1889 zeigt dies:
290
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1960/0293