http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1962/0014
nis ist nicht mehr das unserer Väter und Vorväter, für die das Alte weitgehend
das Altehrwürdige war. Sie wurden in Traditionen erzogen und gefestigt, und das
Vergangene war im Wert meist höher gestellt als das Gegenwärtige. So war das
Leben und die Wissenschaft z. B. im 19. Jahrhundert weitgehend geschichtlich orientiert
, denn Geschichtsforschung als Wissenschaft war eben erst aus der Taufe
gehoben und unterwarf alles dem historischen Aspekt. Man nannte diese Art deshalb
den „Historismus".
Gerne feierte noch die Zeit vor dem 1. Weltkrieg die Geschichte als Wegbereiterin
ihres Fortschritts, doch dieser Krieg bedeutete eine jähe Unterbrechung der Kontinuität
des Geschichtlichen. Er rief bisher ungekannte Geschichtsmächte auf den
Plan und hat die Traditionen der Dynastien gestürzt. Seit 1918 datiert unser
„gestörtes" Verhältnis zur Geschichte. Es folgte der radikale Geschichtspessimismus
der 20er Jahre, wie er sich z. B. in Oswald Spenglers Buch vom „Untergang des
Abendlandes" spiegelte und darauf der ebenso radikale Geschichtsoptimismus des
Nationalsozialismus, den die Geschichte selbst im 2. Weltkrieg auf das furchtbarste
widerlegte. Das Jahr 1945 bedeutete den völligen Einsturz jenes Geschichtsbildes,
in dem z. B. meine Generation aufgewachsen und erzogen war. Mit dieser Zertrümmerung
einer uns entstellt dargebotenen Vergangenheit verband sich bei
vielen eine bis in unsere Tage fortwirkende Absage an die Geschichte und der
Wunsch, daß die Tür zur Welt des Grauens der Vergangenheit endgültig ins
Schloß falle.
Dieses bildet der eine gewichtige Faktor unseres heutigen „gestörten" Verhältnisses
zur Vergangenheit, die anderen wachsen uns aus dem Leben unserer Zeit,
aus der Gegenwart, zu. Der Historiker Hermann Heimpel nennt in seiner eindringlichen
Untersuchung über „Unser Verhältnis zur Geschichte", die in der 1960
erschienenen Aufsatzsammlung „Wo stehen wir heute?" abgedruckt ist, als erste
Ursache unserer Geschichtsentfremdung „Die Barriere des Schuldgefühls". Er
setzt diesem Faktor weitere hinzu: die Geschwindigkeit unseres Zeiterlebens, das
nach der Zukunft orientierte Sicherheitsbedürfnis des modernen Menschen, die
durch die Technik und industrielle Arbeitswelt bedingte Andersartigkeit unserer
Zeit gegenüber aller früheren Geschichte. In der Tat: alle diese modernen Faktoren
haben tiefe Furchen gegraben in das vordem ebene Übergangsland zur Welt der
Vergangenheit, und auch die heimatgeschichtliche Betrachtung, auf deren Situation
wir nachher gleich eingehender zu sprechen kommen, sieht sich dadurch mitunter
auf neue Ausgangspunkte ihrer Orientierung verwiesen.
Betrachten wir das Leben unserer Gegenwart — zunächst vereinfachend und
vergröbernd — von der Oberfläche her, so könnte es allerdings den Anschein haben,
als ob Heimatgeschichte heute dazu verurteilt sei, wenn nicht von den Wogen der
Zeit hinweggespült, so doch zu einem Hobby von wenigen zeitfremden Gelehrten
zu werden. Denn noch keine Zeit war so gegenwartsgerichtet wie die unsere. Schon
durch Beruf und Alltag fordert und überfordert uns die Gegenwart nahezu vollkommen
. Die uns mehr und mehr dirigierende Macht der Reklame fesselt unser
wirtschaftliches Dasein, ja unser Dasein überhaupt, an das beständig wechselnde
Neue. Die Technik, unter deren tiefem Eindruck unsere Zeit steht, präsentiert sich
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