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Welt zu bessern; er bleibt im Gegensatz zu den Musterbildern heroischer Romane
nur ein passiver Betrachter, der viel wunderliche und abenteuerliche Sachen auch
weiterhin vernimmt, als er in die Tiefe des Mummelsees hinabsteigt oder das
friedfertige Leben der ungarischen Wiedertäufer kennenlernt oder bis nach Moskau
sich verschleppen läßt. Aber er hat schließlich nur an das Heil seiner Seele und
an seinen eigenen Frieden mit der Welt zu denken. Die weiteren Kontinuationen
haben, auch wenn sie ins Leben zurückführen, die innere Entwicklung des Helden
nicht mehr gefördert und seinen Charakter durch keine neuen Züge bereichert.
Die Bewährung der eigenen Festigkeit in allen Prüfungen des unbeständigen
Glücks, das Heranreifen für die Aufgaben des tätigen Lebens, wäre das Thema
einer Fortsetzung gewesen, die nicht geschrieben wurde.
Statt dessen ist in weiteren simplicianischen Romanen, die als Anhängsel folgen,
ein paar alten Bekannten, die als episodische Figuren des Hauptwerkes weit unter
dem Helden standen, zur Erzählung ihrer eigenen Lebensgeschichte die Zunge gelöst
. Die drei im „Simplicissimus" verwobenen Elemente sind anders verteilt: in
der „Landstörtzerin Courasche" (1670) überwiegt das Romanhafte, im „Seltzamen
Springinsfeld" (1670) das Geschichtliche, und in den beiden Teilen des „Wunderbar-
lichen Vogelnests" (1672—1675) paart sich Satirisches mit Novellistischem. Keine
dieser Erzählungen gelangt zu der umfassenden Weltschau des Hauptromans und
zu seiner Tiefe des Zeiterlebens; dafür sind sie einheitlicher und in der Technik der
Erzählung gewandter und sicherer. Die sprachlichen Möglichkeiten der Selbstcharakteristik
durch die Icherzählung sind erst jetzt voll ausgenutzt, wenn Le-
buschka, der man im Lager den Namen Courage gegeben hat und die als Dame
„mehr mobilis als nobilis" mit Simplicius am Sauerbrunnen bekannt geworden
war, unter dem Titel „Trutzsimplex" die Geschichte ihres Lebens diktiert, um dem
ehemaligen Liebhaber die Augen darüber zu öffnen, mit welchem verkommenen
Geschöpf er sich eingelassen hatte. Man hört die alte Vettel reden, wenn sie ohne
moralische Diskurse und Exkurse in der Sprache einer ungebildeten, aber mit
Mutterwitz gesegneten Marketenderin das Schicksal der Picara berichtet, das stufenweise
von der Rittmeisterin zur Zigeunerin absinkt. Einer, der ihr auch einmal
ins Garn gegangen war und mit ihr gefährliche Diebesstreiche vollbrachte, ist
Simplicius' alter Kriegskamerad Springinsfeld, der nun im dritten Roman seine
Kriegsgeschichte bis zum Westfälischen Frieden erzählt. Hier sind mehr große
Ereignisse hineingezogen, zum Beispiel die Schlachten von Lützen und Nördlingen;
aber ihre Schilderung hat nichts unmittelbar Erlebtes; geschichtliche Quellen, wie
Wassenbergs „Erneuerter Teutscher Florus" und Abelins „Theatrum Europaeum"
sind dafür ab- und umgeschrieben.
Im Leben Springinsfelds bewährt sich das Sprichwort „Junge Soldaten, alte
Bettler". Mit einem Holzbein kehrt er aus dem ungarischen Krieg heim und tut
sich mit einer Leirerin zusammen, um mit ihr auf den Jahrmärkten herumzuziehen.
Sie ist Besitzerin eines unsichtbar machenden Vogelnestes, das nach ihrem Tode
an andere übergeht und nun das Motiv der beiden letzten Simplicianischen Romane
bildet. „Der Wahn treugt", dieser Grundgedanke des „Simplicissimus", der
auf den Kupfern einer späteren Ausgabe als Motto zu sehen war, erfährt in dem
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