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40. Der Ort im ersten Weltkrieg und während der Nachkriegsjahre
Es war an einem der ersten Augusttage des Jahres 1914, als ein mit einer Trommel
ausgerüsteter Mann durch den Ort zog, von Zeit zu Zeit auf dem Instrument einen
Wirbel schlug und darnach mit lauter Stimme ein Schriftstück verlas. Die Kinder des
Ortes hatten ihre helle Freude an dem Schauspiel und liefen dem Trommler in Scharen
nach. Anders wirkte der Mann mit der Trommel auf die Erwachsenen. Sie machten nachdenkliche
und besorgte Gesichter, denn was jener verkündete, war nicht mehr und nicht
weniger, als daß der Krieg erklärt sei und die wehrfähigen Männer des Ortes sich unverzüglich
an ihren Standplätzen einzufinden hätten.
In den folgenden Tagen gab es ein ungewöhnliches Treiben bei den meisten Familien.
Man richtete die Sachen für den Mann, den Vater, den Bruder, und bepackt mit ihrem
Zeug zogen die Männer davon. Es gab Abschiedsszenen und bei vielen auch Tränen. Man
tröstete sich auch ein wenig in der Hoffnung, daß es mit dem Krieg doch nicht ernst
werden würde und daß die Männer bald wieder heimkehren würden.
Dem war aber nicht so. Der Krieg hielt die Männer fest, und zu Hause änderten sich
die allgemeinen Lebensverhältnisse insofern, als die Frauen und alten Leute jetzt die
Arbeiten zu verrichten hatten, die sonst Männersache waren.
Langsam gewöhnte man sich an den neuen Zustand und fand sich damit ab. Die Feldpost
kam in Gang und schuf die Verbindung zwischen den Daheimgebliebenen und den
Männern draußen. Bald gab es auch Extrablätter, auf denen große Siege gemeldet wurden,
und man läutete die Glocken, um solche Ereignisse gebührend zu feiern. Bei einer solchen
Entwicklung der Dinge wuchs die Hoffnung, daß der Krieg gewonnen und somit bald
beendet sein würde.
Aber es sollte bekanntlich anders kommen. Der Krieg dauerte an und bestimmte immer
stärker die Verhältnisse. Die Rationierung von Lebensmitteln und Kleidern setzte ein.
Wer schlachten wollte, brauchte einen Schlachtschein. Für Kleidung, Schuhe, Bettzeug und
dgl. brauchte man einen Bezugsschein, der auf dem Rathaus ausgestellt wurde. Aus Bast
und Stroh verfertigte man Schuhe für den Hausgebrauch, und auch sonst wurden allerlei
Ersatzstoffe angeboten, die die Schwierigkeiten erleichtern sollten. Die Kinder sammelten
alles mögliche Altmaterial, das, zweckentsprechend verwertet, als Beihilfe zur Versorgung
dienen sollte. Längst waren die goldenen 10- und 20-Mark-Stücklein aus dem Verkehr
verschwunden, in denen sich einmal glückliche Friedenszeiten gespiegelt hatten.
In dieser Zeit kam der Wald mit seinen Gaben wieder zu Ehren. Man sammelte
Eicheln, die, geröstet, ein derbes Kaffeegebräu ergaben, man sammelte vor allem auch
Bucheckern, aus denen das Bucheckernöl hergestellt wurde, das bei den fettarmen Zeiten
sehr begehrt war. Trotzdem wurden die Verhältnisse immer schwieriger. Zwar gab es auf
dem Lande immer noch etwas Zusätzliches aus verborgenen Quellen — damit rechneten
auch die Städter, die sich jetzt als „Hamsterer" im Dorfbild bemerkbar machten. Aber
die schlechte Ernte von 1917 machte auch für die Landbevölkerung alles knapp, und
dabei sollten diese Menschen noch die schwere körperliche Arbeit bewältigen.
Der Krieg hatte inzwischen immer stärker die grauen, düsteren Züge angenommen.
Immer wieder gab es traurige Nachrichten, traf die Mitteilung in der Heimat ein, daß
wieder einer gefallen war, und brachte Gram und Leid über die betroffene Familie. Vom
Siege war nicht mehr die Rede.
Und dann kam das bittere Ende: der Krieg war verloren. Er berührte wie das ganze
Grenzgebiet, so auch unsern Ort mit den Bildern der zurückflutenden Armeen. In langen
Zügen wälzte es sich über die Landstraße, Soldaten bald in kleineren, bald in größeren
Gruppen, dazwischen Gespanne mit den verschiedensten Arten von Zugtieren. Dorthin,
an die Landstraße, brachte man auch in großen Gefäßen einen dünnen Kaffee, damit die
Vorbeiziehenden den Durst löschen konnten. Bisweilen erschienen auch kleinere Trupps
von Soldaten im Ort, lagerten beim Rathaus und verschwanden über Nacht wieder.
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