http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1969/0322
Einleitend blickte Haebler zurück in den Herbst 1946, als der damalige Bürgerrat
von der französischen Besatzungsbehörde aufgefordert wurde, einen Oberbürgermeister
der Stadt Baden-Baden vorzuschlagen. Als der Namen Ernst Schlapper
in der Debatte auftauchte, gab es zunächst ratlose Gesichter. — Wer war dieser
Mann, woher kam er? — Über irgendeine kommunale Tätigkeit des Genannten
war kaum etwas bekannt, Beurteilungen von irgendeiner Gemeindebehörde lagen
nicht vor. Ernst Schlapper war in der Kommunalarbeit ein Außenseiter, der Jahrzehnte
in Industrie und Wirtschaft gearbeitet hatte, sogar mit erstaunlichen
Erfolgen und vielseitiger Anerkennung. Er ist am 13. Dezember 1887 in Essen
geboren. Dieses Zentrum der Industrieballung im Ruhrgebiet wurde das Leitmotiv
seines Lebens, eines Lebens in der Industrie und für die Industrie. Man
nahm den begabten Schüler in die Privatschule der Krupp-Werke auf. Als Absolvent
der Handelsschule hielt er mit neunzehn Jahren die Ansprache zur Schulentlassung
. Das Examen an der Handelshochschule Lyon bestand er mit Auszeichnung
.
Nach anerkannter Tätigkeit in verschiedenen Industriezweigen zeichnete er mit
fünfundzwanzig Jahren als jüngster Prokurist des Borsig-Konzerns. Um 1919
wurde er stellvertretender Präsident der Industrie- und Handelskammer für Oberhessen
. Zu gleicher Zeit wählte ihn Butzbach in Oberhessen zum Stellvertreter des
Bürgermeisters. Doch wieder lockten ihn die Ferne und die Arbeit in einem weltweiten
Unternehmen; er trat als Verkaufsdisponent in ein bedeutendes französisches
Holzsyndikat ein. Auf ausgedehnten Reisen in die damals französischen
Kolonien, nach Nordafrika und in den Nahen Osten gewann er umfassende Einblicke
in die Verflechtungen des Welthandels und der Weltindustrie.
Als er 1925 Berater des Internationalen Arbeitsamts in Genf war, wurde er
durch Verhandlungen mit den beiden Außenministern Aristide Briand und Gustav
Stresemann bekannt. Bis zum Lebensende beider Staatsmänner stand er mit ihnen
in Verbindung. Da Gustav Stresemann ebenfalls ein Mann der Wirtschaft war,
bedurfte es kaum großer Bemühungen, um sich zu verstehen. Schon 1922 hatte die
Universität Gießen Ernst Schlapper in Anerkennung „seiner schöpferischen Tätigkeit
als weitblickender Förderer nationaler technisch-wissenschaftlicher Aufgaben"
zum Ehrendoktor ernannt.
Ein Mann mit so weitreichenden und einflußreichen Verbindungen, vor allem
aber ein so eigenwilliger Denker wie Ernst Schlapper, war dem Nationalsozialismus
in jeder Beziehung verdächtig und wurde auf Schritt und Tritt überwacht.
Um 1935 glaubte man, ihn eines „Devisen-Vergehens" anklagen zu können. Man
hielt ihn zweiundzwanzig Monate in Haft.
Als er am 22. September 1946 zum Oberbürgermeister der Stadt Baden-Baden
gewählt war und Soll und Haben der städtischen Bilanz gegeneinander abwog,
wäre mancher hoffnungslos vor der ihm gestellten Aufgabe zurückgeschreckt. Doch
das neue Stadtoberhaupt hatte in einem arbeits- und abwechslungsreichen Leben
gelernt, in keiner Lage zu verzweifeln, dagegen entschlossen in die Speichen zu
greifen und vor der schwersten Aufgabe zu bestehen.
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