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Heimat und Heimatforschung heute
Von Hans Niedermeier
Die Philologen versichern uns, daß „Heim" zu den allerältesten Bestandteilen der deutschen
Sprache gehört. Wir haben mehrere tausend Orts- und Familiennamen in Deutschland
, die die Endsilbe „heim" besitzen. Aus diesem Wort hat dann die deutsche Sprache
durch einen Ablaut, ähnlich wie aus klein das Kleinod, so aus Heim die Heimat, also den
weiteren Begriff, der über das Heim hinausgeht, gemacht.
„Heimat" ist vermutlich das erste und beständigste Ergebnis in der Entwicklung der
menschlichen Persönlichkeit und hängt aufs engste mit menschlichen Eigenschaften und
Eigenheiten innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes zusammen. Heimat ist ein
zwischenmenschlicher Zusammenhang. Der Mensch wächst ganz unbewußt in seine Heimat
hinein und empfindet kaum einen Anlaß, darüber nachzudenken. Erst wenn eine äußere
Störung in der Entwicklung des Menschen eintritt, wenn die Heimat als Naturzustand
verlorengeht, wird sie zum Bewußtseinsinhalt. Man kann demnach sagen, daß das
Heimatbewußtsein zuerst bei den Menschen in Erscheinung trat, die gezwungen waren,
in der Fremde zu leben, etwa bei den in fremde Länder verkauften Sklaven, dem fahrenden
Volk, den wandernden Handwerksgesellen. Die Bodenständigen hingegen, die Ritter
auf ihren Burgen, die Bürger in den Städten, die Mönche und Nonnen in den Klöstern
mit dem Gebot der Stabilitas loci, kennen noch kein Heimatproblem.
Zunächst im Rahmen der Familie, beim Aneignen der Muttersprache, nimmt der junge
Mensch diejenigen Wertungen und Tabu« in sich auf, die in der Gesellschaft maßgebend
sind. Er lernt die Umwelt seines Elternhauses, die ihr zugehörige Landschaft kennen;
sie wird für den Heranwachsenden geistiger Besitz. Innerhalb der alten statischen Gesellschaft
paarte sich dieses Bewußtsein geistigen Besitzens mit dem lebendigen Gefühl, daß
diese landschaftliche Umwelt von vergangenen Geschlechterfolgen der eigenen Familien
mitgestaltet wurde und sie deshalb auch für ihn und seine Nachkommen da ist, es also
sein gutes Recht ist, gerade hier zu leben und zu sterben. Der Mensch erlebt sich auf dieser
Stufe als Glied einer kontinuierlichen Reihe und sieht sich einem vorgegebenen Auftrag
gegenüber, der ihm aus dem historischen Raum zugewachsen ist. Menschen, die gewaltsam
aus ihrer Heimat vertrieben werden, verlieren den von ihren Vorfahren in Jahrhunderten
aufgebauten Kultur- und Lebensbereich, innerhalb dem ihr eigenes Leben sich hätte abspielen
sollen.
Im Laufe der Jahrhunderte änderte sich das Gefüge von Lebensregeln, die der Mensch
durch Erziehung und Anpassung mitbekommt oder sich erarbeitet. Dabei gewann gleich
nach der Familie die unmittelbare Umgebung, die Dorfgemeinschaft, die Stadt oder das
Stadtviertel an Einfluß. Die gesamten Vorstellungen, die ein Mensch vom Leben der
Gesellschaft hat, sind notwendigerweise von jenen Vorstellungen beeinflußt, die er einmal
in seiner Heimatgemeinde entwickelt hat. Hier erfährt er am unmittelbarsten, daß er
Glied einer historischen Reihe ist. Er sieht sich gebunden an bestimmte Bilder, Gebäudeformen
, Straßenzüge, Plätze, überhaupt an den Reichtum der optisch greifbaren Außenwelt
in allen ihren Gestalten. So gewinnt die Anschaulichkeit des Lebens in der heimatlichen
Bindung ein kaum wieder erreichbares Maximum an Eindringlichkeit. Gleichzeitig
läßt sich sagen, daß all diese emotionell fixierten Vorstellungen einen ausgeprägten sym-
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