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bolischen Charakter gewinnen und letztlich jeder einzelne Teil der heimatlichen Umwelt
für das Ganze stehen kann, z. B. das Elternhaus oder eine Kirche. Im Grunde umschreiben
wir mit dem Wort Heimat einen seelischen Eindruck, meinen Geborgensein, Vertrautheit
in der Einordnung in einen überschaubaren Umkreis.
Nun sind aber seit etwa hundert Jahren die breiten Massen unseres Volkes aus ihrer
Ungeschichtlichkeit, ihrer bisher passiven Rolle, herausgetreten und zu Mitbestimmern ihres
eigenen politischen und sozialen Schicksals geworden. Damit hat sich auch der Heimatbegriff
verändert. Heimat ist aus einem Zustand von unveränderlicher Statik des alten
Gesellschaftskörpers zu einem dynamischen Prozeß geworden, der immer wieder durch
kontinuierliche Anpassung entschieden wird. Die Seßhaftigkeit der früheren Ständegesellschaft
mit ihren mehr oder weniger festen Grenzen wurde abgelöst von einer Welle des
Wechsels und Wandels der heute in vollem Umbruch befindlichen Leistungsgesellschaft.
Dadurch hat sich das Grundverhältnis der zwischenmenschlichen Vertrautheit gelockert,
ja es kommt mancherorts gar nicht erst zustande. Einstmals gab es Eliteschichten, die den
Geist, die Normen des Lebenskreises, den wir Heimat nennen, prägten. Diese Führungsschichten
sind heute zerschlagen, ausgehöhlt oder haben so sehr an sozialem Prestige verloren
, daß sie ihre alten Funktionen im Bereich der Heimat nicht mehr ausüben können.
Dabei bedarf gerade der heute in den rasanten Strudel unserer Industriegesellschaft geworfene
Mensch mehr denn je der Hilfe und des Hinweises auf die Kräfte, die in Heimat
und Heimatgesinnung beschlossen sind, damit Entwurzelung und Vereinsamung nicht über
ihn Herr werden, anonyme Mächte ihn nicht zum willigen Objekt fremder Ideologien
machen.
Die sich stetig wandelnde Umwelt weist auch dem Heimatforscher neue Aufgaben zu.
Männer wie W. H. Riehl oder Christian Frank waren Wegbereiter in einer noch ruhigen
Zeit. Sie und zahlreiche andere Pioniere der Heimatforschung und Heimatpflege haben
ihre unbestreitbaren Verdienste als Sammler, Rufer und Erwecker. Aus dem Heimatfreund
von einst, der vielfach nur aus Liebhaberei Heimatforschung betrieb, muß ein Kämpfer
für die Kulturwerte der Heimat werden. Getragen vom materialistischen Geist des 19.
Jahrhunderts und vorangetrieben vom Großkapital und der Technik hat die sich oft
rücksichtslos ausbreitende Industrie — nicht selten als „Fortschritt" bejubelt — unserer
Heimat und ihren Menschen manchen Schaden gebracht; Schaden vor allem durch den
Verlust nie mehr zu ersetzender immaterieller Werte. Durch die Schändung tausendjähriger
Städte zugunsten des Molochs Verkehr, die Zerstörung weiter, bislang unberührter Landschaftsgebiete
, gar nicht erst zu reden von den Veränderungen im seelischen Bereich der
Menschen, sind wir allmählich dem Nullpunkt bedrohlich nahe gekommen. Mehr als genug
ist an Zerstörung in den letzten hundert Jahren angerichtet worden, in denen man den
sogenannten Fortschritt nicht nur gewähren ließ, sondern ihm willige Hände bot. Es ist
höchste Zeit, daß der „Feind" erkannt, beim Namen genannt und gestellt wird. Als
diesen Feind sehen wir alles an, was Gottes Schöpfung, was die Natur und Kultur unserer
Heimat und die Seelen ihrer Menschen zerstört, bedroht oder verfälscht.
Der Heimatforscher sollte heute nicht nur die Geschichte seiner Heimat erforschen, sondern
sich auch um den Heimatschutz und die Heimatpflege annehmen, denn hier wird von
staatlicher und kommunaler Seite, z. B. im Landschafts- und Denkmalschutz, noch viel zu
wenig getan. Jenseits der materiellen Sphäre gilt es den Heimatgedanken als solchen zu
pflegen, wobei heimatkundliche Vereine und heimatkundliche Zeitschriften eine wertvolle
Stütze sind. Menschen, vor allem junge Menschen, gewinnen und begeistern für den Gedanken
der Heimat erscheint mir als eine der schönsten Aufgaben eines Heimatforschers.
Naturschutz und Denkmalpflege beispielsweise kommen dann nicht mehr als lästig empfundene
Anordnung von oben her, sie werden vielmehr für den Einzelnen wieder mit
allen ihren Konsequenzen zur Selbstverständlichkeit.
Heimatforschung ist keine abstrakte Wissenschaft; sie muß irgendwie auf dem Boden
stehen, muß noch etwas von jener Beseelung verspüren lassen, die vom Wort Heimat aus-
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