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übersetzt; Charles Sorel: „Francion"; Harsdörffer, den „vielleicht wichtigsten Gewährsmann
"88 des Autors; Moscherosch; Balthasar Schupp und Philipp von Zesen.
Eine vollständige Aufzählung ist nicht möglich. Allein die nachweislichen Quellen
- zu denen vermutliche andere hinzutreten werden - umfassen mehr als 70 Titel89
!
Es überrascht zu sehen, wie viele Partien des Romans, denen man hohen autobiographischen
Gehalt zugesprochen hatte, sich nun als Verarbeitungen literarischer
Vorlagen erweisen. So finden sich im Einleitungskapitel (I, 1) des „Sim-
plicissimus" Entlehnungen aus Garzoni. Der Romanschluß (V, 23), besonders die
sog. Weltklage, ist nach Guevaras Schrift gestaltet. Auch die Jupiterepisode - der
Narr, der sich für Gott Jupiter hält - geht nicht auf ein Erlebnis oder auf eine
bestimmte Person zurück, sondern hat ihre Quelle wohl bei Harsdörffer. Sicher
geht auf diesen die Beau-Alman-Episode zurück; sie ist in Harsdörffers „Großem
Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte . . ." (1651) vorgebildet. Dem Mummelsee
-Kapitel liegt deutlich die „Blockes-Berges Verrichtung" (1668) von Johann
Praetorius zugrunde, aus der auch die Blocksbergszene stammt. Die Zahl der Beispiele
könnte ohne Schwierigkeit vermehrt werden.
Im Gegensatz zur traditionellen Forschung ging Richard Alewyn schon 1932 - in
seinem Buch über Johann Beer - so weit, dem „Simplicissimus" die Absicht, Wirklichkeit
darzustellen, geradezu abzusprechen. Er stellte fest, daß Grimmelshausens
Werk „ausgesprochen wirklichkeitsarm"90 sei. „Wirklichkeitsnähe habe man ihm
zu Unrecht zugesprochen; sie werde seiner Leistung auch nicht gerecht. Aufgrund
genauer Textvergleiche und eingehender Analysen kam Alewyn zu dem Schluß,
daß der sog. „Sacheninhalt" auffallend gering, der „reale Gehalt", das „Konkret-
Gegenständliche" kaum greifbar sei, so daß der Roman nirgends den Charakter
einer „kulturgeschichtlichen Stoffquelle" oder gar einer „Realenzyklopädie"91
habe. Alewyns Thesen haben Anerkennung gefunden. Sie blieben aber weitgehend
unwirksam, wohl deshalb, weil Alewyn sie — da er ein Beer-Buch schrieb und den
„Simplicissimus" nur zum Vergleich heranzog - nicht zu einer neuen Konzeption
von Werk und Leben Grimmelshausens ausweitete. Der geringe Wirklichkeitsgrad
im „Simplicissimus" kann — wie Alewyn das versucht - mit der „erzählerischen
Notdurft"92 des Dichters allerdings nicht erklärt werden. Eine Begründung dafür
läßt sich nur im Zusammenhang der Gesamt-Intention des Werkes geben.
Bürgerliche Weltdeutung
Wir sehen, was unverändert gilt, ist die Faktenbasis. Die Deutungen gehen weit
auseinander. Auf der Grundlage der biographischen und lokalhistorischen Tat-
88 Günther Weydt: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Stuttgart 1971 (Reihe Metzler.
Abt. D: Literaturgeschichte. M 99), S. 52.
89 Heining, Die Bildung Grimmelshausens, S. 106—125.
90 Richard Alewyn: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1932, S. 198.
91 Alewyn, Johann Beer, S. 197, 200, 197—198, 197.
92 Alewyn, Johann Beer, S. 198.
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