http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1975/0185
gangenheit ganz aufzuheben und die Erscheinungsweise der Gegenwart
allein an die Stelle zu setzen". Die lebensgroße, detailgetreue Offenburger
Plastik möchte ja, wie zu erinnern, möglichst naturalistisch sein —
aber keineswegs in einem historischen Sinne: mit der gesamten Bühne
und Staffage, von der kleinen Flora und Fauna bis zum Landschaftshintergrund
, soll die zeitliche wie örtliche Distanz zum Geschehen vergessen
gemacht und es selber vergegenwärtigt werden. Es geschieht hier und
jetzt, und ohne aufzufallen hätte der Betrachter mitten dazwischen treten
können; ohne weiteres zumal zwischen die Kriegsknechte, die, Landsleute
und Zeitgenossen, anders als Jesus und seine Begleiter das Kostüm des
deutschen Spätmittelalters tragen und, wie im Passionsspiel, gebildet sind
„ganz mit der Gemeinheit unserer Zeit". Kein Zweifel, daß davon eine
starke Wirkung ausging auf das betrachtende Volk, das „um so andächtiger
dabei ist, je mehr in dieser unmittelbaren eigenen Gegenwärtigkeit
des Äußerlichen das Innere der religiösen Vorstellung ihm lebendiger
wird". Die Deutung indessen steht nun an einem Scheideweg: vor der
Frage nach der Identifikation des Betrachters.
Wenn dieser nämlich, wie das besonders zum Passionsspiel Gesagte es
nahelegt, in den Häschern sich zwar karikiert fand, doch wiedererkannte,
sie zumindest als seinesgleichen erkannte, dann blieb ihm nur noch eins
zu denken übrig: Jesus, Jesu Sache leidet an uns und unter uns, und wir
sind es selber, die leiden machen. Daß die Leiden des Erlösers die Taten
der Menschen entgelten, auch der erst nach ihm kommenden, wäre als ein
alter Glaubenssatz hier in ein einziges, Verursachende und Ausführende
gleichsetzendes Bild gebannt. (So hat auch noch 1925 Lovis Corinth seinen
,Ecce Homo', eins jener alten Motive, zwischen einen mittelalterlichen
Ritter und einen ganz modernen Arzt18 gestellt.)
Andererseits: wenn der Betrachter, im Einklang mit dem mystisch-asze-
tischen Denken seiner Zeit, die compassio als mitleidende Identifikation
vollzog und derart nun in Jesus sich hineinversetzte, dann rückten die
Häscher in ein durchaus negatives Licht. Dann erschienen sie, die den
zeitgenössischen Kriegsknechten so sehr gleichenden, ungemildert als
Vertreter einer schlechten Obrigkeit, die dem Gerechten und der gerechten
Sache mit Verrat und Gewalt den Todesstoß versetzt. Solche Parallelen
dürften in einer rebellischen Zeit wie der hier gemeinten (und der
Offenburger Ölberg datiert vom ersten Jahr des großen Bauernkriegs)
vielleicht nicht unbemerkt geblieben sein; hier schienen, ganz aktuell und
ohne jedes entrückende Zeit- oder Lokalkolorit, die Machthaber in ihren
19 „in dem man den Chefarzt einer psychiatrischen Klinik vermuten könnte, der die Symptome des
Patienten dem Auditorium erklärt": Hans H. Hofstätter, Malerei und Graphik der Gegenwart. Baden-
Baden 1969, S. 97 (Abb. S. 99).
179
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1975/0185