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Das Kabinett in der Eremitage ist eine vollkommene Theaterszene. Angetan
mit dem Kostüm der Büßerin, gesellt sich die Herrscherin den sakralen
Kleiderpuppen als ihren Mitspielern zu, und die Rolle, die sie
selber spielt, ist die eines weiteren Mitglieds der Heiligen Familie. Hier
schlägt noch im Barock dessen mittelalterliches Erbe durch: bereits das
Passionsdrama hatte die Heilsgeschichte als Welttheater vorgeführt,
und seine Szenen waren in oft lebensgroßen Gruppen plastisch festgehalten
worden, die dann der mystischen Versenkung Anhalt boten 4. Die unio
mystica aber (welche in barocker Frömmigkeit wieder an zentraler Stelle
erscheint5) ist eine Identifikation, nicht unähnlich der des Schauspielers
mit seinem Part. Zwei weitere Wachsfiguren sprechen dies sehr deutlich
aus: sie verkörpern Jesus und Maria Magdalena — Vorbild der sündigen
und reuigen Büßerin, wie die Markgräfin eine sein wollte.
„Ich seh, wie in der Welt wir armen Menschen pflegen / Bald dies bald
jenes Kleid, itzt an-, itzt abzulegen. / Ich schätze den für klug und gebe
dem den Preis / Der die Person hier recht und wohl zu spielen weiß."6 So
schreibt ein Dichter jener Zeit und gibt damit deren Theatralik wie zugleich
Antithetik genauen Ausdruck; Sibylla Augusta, die das Gewand
der Herrscherin mit dem ganz anderen der Büßerin so ohne weiteres zu
tauschen wußte, hätte sich in diesen Worten wiedererkannt.
In Favorite sind derlei Gegensätze auf engstem Raum vereint: Schloß und
Eremitage, Geselligkeit und Einsamkeit, Reichtum und Armut; im Zeichen
von Szepter und Geißel, geführt von derselben Hand dieser Herrscherin
und Büßerin; und, zumal da Buße mit Abtötung zu tun hat, in der Spannung
zwischen Leben und Tod. Auch sie war dem Barock wie kaum einer
Zeit aufs eindringlichste gegenwärtig. Der Totenschädel am Fußende des
von Sibylla Augusta benutzten Strohlagers veranschaulicht überaus treffend
das klassische „Somnus est imago mortis", wonach also der Schlaf als
Bild oder auch Bruder des Todes figuriert. Und das mittelalterliche
„Media vita in morte", die Anwesenheit des Todes im Leben selber, klingt
ebenfalls unüberhörbar an. Es war ja die ganz persönliche Erfahrung
einer Frau, die früh fünf Kinder und den Mann verloren und als Begleiterin
dieses Feldherrn viel Tod gesehen hatte. „Nur ein Tod ist dieses Leben
/ Nichts als eine Grabesbahn / Wann zu leben wir anheben / Fähen
4 Vgl. Johannes Werner, Der Offenburger ölberg (im vorliegenden Band).
5 Vgl. Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. Einheit
und Wandlung ihrer Erscheinungsformen. 3. Aufl. Berlin 1969, bes. S. 186—221 („Die Wiederaufnahme
mittelalterlicher Mystik im Zeitalter des Barock").
6 Johann Peter Titz, zit. nach: Willi Flemming, Deutsche Kultur im Zeitalter des Barocks. 2. Aufl.
Konstanz i960, S. 32.
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