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dessen Reliquien sie ja barg, wie sonst nur die von Blutzeugen Christi geborgen
wurden — von Märtyrern, deren erster, wie die Kirchenväter sagen, Abel
war.7
Noch einmal aber und zum Schluß ist an die schon am Anfang angeführte
Deutung anzuknüpfen, wonach mit den feindlichen Brüdern eine geschichtliche,
geschichtsbestimmende Gegensätzlichkeit aufbrach; und da diese, die in der
Genesis begann, erst in der Apokalypse beendet und besiegelt werden wird,
ist die Darstellung von Kain und Abel auch zu begreifen als „typologischer
Hinweis auf das Jüngste Gericht". 8 „An den Brüdern wird nicht selten der
richtende Herr sichtbar gemacht, der rechts und links, gut und bös, Angenehme
und Verworfene scheidet." 9 Die Darstellung zu Schuttern will sagen, daß der,
dessen Grab sie faßt, seit seinem Tod nichts anderes als dieses Gericht erwartet
; und daß die noch Lebenden ihr Leben auf dieses Gericht hin ausrichten
sollten. „Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, daß
wir einander lieben sollen. Nicht wie Kain, der aus dem Bösen war und seinen
Bruder ermordet hat. Und warum hat er ihn ermordet? Weil seine Werke böse
waren, die seines Bruders aber gerecht" (1 Jo 3,11—12; siehe auch Hebr 11,4;
Mt 23,35; Lk 11,51).
Derart entfaltet das zunächst so wenig begreifliche Bild seinen reichen und
tiefen Sinn, und zuletzt, als seinen vielleicht tiefsten, den eschatologischen, in
dem es schon von der ersten christlichen Kunst begriffen wurde.10 Schon bald
begegnete ja die Opferszene in Form von Sarkophagplastiken und Katakombenfresken
, also schon hier, und mit gutem Grund, im sepulkralen Zusammenhang
; dann aber gleich im basilikalen, nämlich auf römischen und ravennati-
schen Mosaiken, und nicht lange nach dem von Schuttern auch auf denen von
Monreale und Venedig. Bald auch bemächtigten sich alle anderen Künste des
Motivs, ebenso der Mordszene. Doch vor dem oder aus dem frühen 11. Jahrhundert
, in dem Offos Grab dergestalt wiederhergestellt wurde, sind diesseits
der Alpen nur sehr wenige einzelne Bilder der einen oder der anderen Szene
bekannt, kaum gemeinsame der beiden, und überhaupt haben (außer noch römischen
und oft nur ornamentalen) keine Mosaiken sich erhalten. So ist das
tiefsinnige und sinnreiche Bild von Schuttern ein einzigartiger Abglanz jener
musivischen und zugleich theologischen Kombinationskunst, von der Venantius
Fortunatus schrieb:11
Emicat aula potens, solido perfecta metallo,
Quo sine nocte manet continuata dies ...
Es erstrahlt die mächtige Halle, mit gediegnem Metall verzieret,
wo immer der Tag verharrt, ohne der Nacht zu weichen ...
7 So etwa Cyprian; und noch die späte, doch aus frühen Quellen schöpfende .Legenda aurea' schreibt
aus Anlaß des ersten neutestamentlichen Märtyrers Stephanus: „Er war eine Krone der Märtyrer im
neuen Bund, denn er war ihr Anbeginn, gleichwie Abel der erste war im alten Bund" (Die Legenda
aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Berlin 1963, S. 64).
8 W. v. d. Steinen, a.a.O. S. 296.
9 Ebda. S. 241. — Dies ist denn wohl auch die Bedeutung des Wandbildes in der nahegelegenen Glöckle-
hofkapelle von Oberkrozingen, das, aus dem 9. oder 10. Jahrhundert stammend, unter einer Darstellung
Christi die beiden Brüder zeigt.
10 Vgl. z. B. Carl Maria Kaufmann, Handbuch der christlichen Archäologie. 2. Aufl. Paderborn 1913,
S. 248 f., 305, 439.
11 Zit. nach: Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1963, S. 131. (Mit .Metallen'
sind in diesem und dem nächsten Zitat ,Mosaiken* gemeint.)
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