http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1978/0065
um das Reich und um die Einheit unter den Söhnen Kaiser Ludwigs des
Frommen besorgte Abt Walahfrid Strabo. Nicht alle Mönche haben den
hochgemuten Sinn des aus einfachen Verhältnissen aufgewachsenen
Abtes verstanden, aber auch die bitteren Jahre der Verbannung ließen
keinen Stachel zurück, als er, 838 in zwiespältiger Wahl zum Abt gewählt,
840 der Gegenpartei und König Ludwig dem Deutschen auswich und erst
842, mit dem König versöhnt, sein Amt auf der Reichenau wieder
aufnahm. Das unerwartete Sterben am 18. 8. 849 beim Übergang über die
Loire, auf einer Fahrt im Auftrag des Königs, im Dienst der Versöhnung,
brachte im kulturellen Bereich ein erstes Nachlassen. Die politischen
Verpflichtungen der Abtei blieben: Abt Hatto III., 888-913, wird
Erzbischof von Mainz und trägt durch die Endzeit der Karolinger seine
Last so treu, daß er „Retter des Reiches" genannt wurde205.
Die Zeit nach 1000 überschreitet den Bereich dieser Zusammenstellung,
aber wir dürfen doch an die ergreifendste Gestalt der Reichenau
erinnern, an Hermann den Lahmen, 1013-1054206.
Was die erste große Abtei Pirmins in ihrer Frühzeit Hervorragendes
geleistet hat in Architektur, Fresken, Buchmalerei, Bücherschreiben,
Kirchenmusik und Agrikultur berechtigte, dem Prachtwerk zur 1200-
Jahr-Feier den Titel zu geben „Die Kultur der Reichenau". Die
Leistungen sind bekannt. Wie bei Weißenburg sei auch hier noch hingewiesen
auf die Sorge des Inselklosters um die deutsche Sprache.
Dahinter stand die seelsorgerliche Notwendigkeit, unterstützt von den
Gesetzen Karls des Großen. Es begann nüchtern mit althochdeutscher
Deutung einzelner Wörter, zwischen die lateinischen Zeilen oder an den
Rand notiert, und wuchs sich aus zu vollen Ubersetzungen dem lateinischen
Text entlang. Auch das Vaterunser der Reichenau läßt sich aus
vier Stellen dieser Glossen rekonstruieren 207, aber es liest sich nicht so
leicht wie heutiges „Boddeseedütsch".
Um 727 verließ Pirmin die Reichenau. Wann er in Murbach, dem schon
vorhandenen Kloster, zu arbeiten begonnen hat, läßt sich nicht genau
festlegen. In das Jahr 728 gehört eine der Gründungsurkunden, aber 730
205 Theodor Fehrenhach. Walahfrid Strabo. ..Hegau" 31. 1974. 105- 120: Josef Nadler. Literaturgeschichte der deutschen
Stämme und Landschaften I. Regensburg 1929 {= Nadler). 49: Alf Önnerfors. Walahfrid Strabo als Dichter, in: Helmut
Maurer. Die Abtei Reichenau. Sigmaringen 1974 (= Maurer) 83-113.
206 Nadler. 50: ..Hermann der Lahme ... von allen Peinen des Leibes gequält, ein Engel an Milde und Freundlichkeit,
gab... ein demütigendes Beispiel, wie hoch der Adler des Geistes alle Körperlichkeit überfliegen kann. Die Rätsel der
Zahlen, die Geheimnisse des gestirnten Himmels, das Spiel der Töne und Verse, alle Fertigkeiten des Wissens und
Könnens meisterte der siegreiche Dulder". Zum ungewöhnlichen Werk Hermanns, der ersten großen, uns erhaltenen
Weltchronik, eine Arbeit, für die er weithin auf das Hören angewiesen war, schreibt Nadler 51: „Daß er, der kein Glied
ohne Schmerzen rühren konnte, die Fülle des mündlich Zugetragenen sichtete und helläugig wertete, als wäre er
handelnd und teilnehmend durch die Ereignisse geschritten und erzählte nun als Augenzeuge, das zeigt, wie er in
seiner Lage die schwerste aller Künste verstand, das Zuhören mit allgegenwärtigem Geiste".
207 Stefan Sonderegger. Althochdeutsch auf der Reichenau, in: Maurer. 69-82.
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