http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1981/0042
Denn wo spüren die Historiker in aller Regel der vergangenen Wirklichkeit zuerst
nach? In den Urkunden der Archive. Dort finden sie zwar Zeugnisse von
Prozessen oder juristischen Handlungen, übersehen aber oft, daß diese Dokumente
nur bruchstückhafte Zeitaufnahmen eines ungeheuer vielfältigeren Geschehens
sind. Ist man sich genügend bewußt, daß der Notar oder der Schreiber
beim Ausarbeiten der Urkunden in Form und Inhalt von Grundsätzen und
Vorschriften abhängig war, die einem ordnenden Willen entsprachen? Nur
wer die Geschichte, d.h. den Inhalt, den Sinn, den Zweck dieser Ordnung
kennt, erfaßt auch das wahre Wesen der Institutionen. Gewiß, auch die Archive
enthalten einen Teil der Vorschriften gesetzlich-rechtlicher Art. Weit mehr
aber ist in juristischen Bibliotheken zu finden. Dort stehen, systematisch zusammengefaßt
, die Leitsätze und Regeln, welche die Praxis der vergangenen
Jahrhunderte bestimmten, mitsamt Begründung und Historie. Die aus Amtsstuben
stammenden Erlasse wurden von Juristen immer wieder mit anderen
Prinzipien und Texten verglichen und in Lehrbüchern erläutert. Vergleich,
Erläuterung und Einordnung gehört zur vornehmlichen Aufgabe des Rechtslehrers
.
Es ist hier nicht der Ort weiter auf Wesen und Bedeutung der Juristenschulen
im allgemeinen einzugehen. Es sollte nur ganz kurz der Versuch unternommen
werden, unter dem soeben angedeuteten Blickwinkel einen Überblick über das
geschichtliche Wirken der Rechtsfakultät Straßburg zu verschaffen und auch
dies nur im Hinblick auf die Landschaft, welche die Universität umgibt. Dabei
soll auch die Ambivalenz, d. h. der doppelte Sinn des Wortes „Geschichte" in
Kauf genommen werden. „Geschichte" ist ja einerseits eine Wissenschaft, die
Historie, und andererseits konkretes Geschehen, Wirklichkeit im Zeitablauf.
Deshalb kann zuerst einmal festgestellt werden, inwieweit die Regionalhistorie
, d.h. die Geschichtsforschung des Elsaß und Badens von den universitären
Lehren der Rechtsfakultät Straßburg beeinflußt worden ist. In einem zweiten
Teil sollte dann untersucht werden, wie die juristischen Doktrinen in Institutionen
und Strukturen der Praxis umgesetzt wurden, also wie die Rechtstheorien
in den Landen links und rechts des Rheins beigetragen haben, Geschichte
zu gestalten.
/ Rechtsfakultät und regionale Rechtshistorie
Aus den Anfängen der Straßburger „Akademie" ist von geschichtswissenschaftlicher
Tätigkeit der Juristen auf regionaler Ebene nicht viel zu berichten
, wohl aber in europäischer Sicht. Im Gefolge der Reformationswirren
kamen in Straßburg Lehrer zu Wort, die in der juristischen Welt jener Zeit
führend waren.
Vor ihnen hatte man aus Italien, dem Land, das bisher alle Juristen Europas
ausgebildet hatte, eine völlig unhistorische Art der Quelleninterpretation
übernommen. Diesem „Mos Italicus" folgt im Zuge des französischen Huma-
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