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Seine Schüler, besonders der Arzt /. E. Dominique Esquirol (1772—1840)7
führte seine Bestrebungen einer zwangsfreien, menschlichen Behandlung der
Irren weiter.
Auch in Deutschland wollte man sich nicht mehr damit begnügen, die seelisch
Gestörten bloß zu verwahren, ihnen in diagnostischer Hinsicht ratlos und in
therapeutischer hilflos gegenüber zu stehen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts
entstanden auch hier eine Reihe von öffentlichen Irrenanstalten, in denen medizinische
Forschung und Heilbehandlung zusammengingen. Ihre Leitung lag
in den Händen von hervorragenden Ärzten, die wegen ihrer Leistungen auf
dem Gebiet der Psychiatrie weites Ansehen genossen. 1811 wurde die Anstalt
Sonnenschein bei Pirna (Sachsen) gegründet, 1825 Siegburg (Rheinland), die
unter der Leitung von K. W. Jacobi stand, 1830 Sachsenberg bei Schwerin
(Mecklenburg), die Karl Flemming leitete, 1833 Winnental bei Winnenden
(Württemberg), die durch A. Zeller bekannt wurde und 1836 Halle, das seinen
Ruf H. Damerow verdankt. In dieser Reihe steht auch die Gründung der Rienau
, die das Werk von Christian Friedrich Wilhelm Roller ist.
2. Die Gründung der Rienau
Die Heil- und Pflegeanstalt Illenau war die erste des ehemaligen Großherzogtums
Baden. Neuartig in ihrer Anlage und fortschrittlich in ihrer Organisation
und Heilmethode, reichen ihre Wurzeln doch weit in die Vergangenheit zurück
und zwar nach Pforzheim. Dort hatte Luitgard, die Gemahlin des Markgrafen
Rudolf IV. von Baden aus dem Hause der Zähringer, 1322 ein Spital
für „elende und arme Sieche" gegründet. Es wurde nach der Reformation in
das ehemalige Dominikanerinnenkloster verlegt, das 1689 bei der Zerstörung
Pforzheims durch Melac eingeäschert wurde. Auf seinem Platz errichtete
Markgraf Karl Wilhelm 1714—1718 ein Waisen-, Toll-, Siechen-, Zucht- und
Arbeitshaus8, in dem auch „arme Bresthafte und Elende an Leib und Gemüt"
untergebracht wurden. Aber das Zusammenleben solch verschiedener Menschen
in einem Haus bot Anlaß zu vielen Schwierigkeiten. Darum gab man die
Waisenkinder 1773 und 1774 an Pflegeeltern. Die „Züchtlinge" verlegte die
Regierung 1804 nach Bruchsal und Mannheim. Zurück blieben die Siechen
und Geisteskranken, zu denen noch die aus dem Mannheimer „Tollhaus"
hinzukamen. 1804 erhielt das Pforzheimer Haus einen eigenen Arzt und zwar
den Irren- und Siechenphysikus Johann Christian Roller, einen gebürtigen
Pforzheimer. Als er 1814 starb, folgte ihm Friedrich Groos, der einen guten
Namen als Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten hatte.
7 J. E. D. Esquirol, in: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte, 2. A., Bd. 19.
8 W. Stemmer, Zur Geschichte des Waisen-, Toll- u. Krankenhauses sowie Zucht- u. Arbeitshauses in Pforzheim
, in: Festnummer der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und Psychisch-Gerichtl. Medizin zum
50jährigen Dienstjubiläum des Herrn Geheimrat Dr. H. Schüle am 4. 7. 1913. 1913.
Mit Zuchthaus bezeichnete man damals eine Besserungsanstalt für haltlose, leichtfertige Menschen. Tollhaus
, auch Narrenhaus, ist die ältere Bezeichnung für Irrenanstalt; die letztere kam etwa seit 1800 in Gebrauch
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