http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1981/0250
Zu dem in der Landwirtschaft durch schlechte Ernten verursachten Tiefpunkt
gesellte sich eine schwierige Lage der im nahen Lahr ansässigen Industrie. Der
Einbruch hatte in der graphischen Industrie begonnen, wo es im Zuge der
Schutzzollpolitik zu Absatzstockungen durch die in anderen Ländern nun
ebenfalls erhobenen Importzölle gekommen war. Bereits 1892 mußten ein
Fünftel der Maschinen stillgelegt und eine größere Anzahl Arbeiter entlassen
werden25. Eine weitere Einbuße erlitten die Druckereien durch den Nachfragerückgang
nach Aufdrucken für Emballagen in der Zichorien- und Tabakindustrie
. Diese beiden Zweige erlebten seit kurzer Zeit ebenfalls eine Absatzkrise,
welche im Falle der Tabakindustrie hauptsächlich auf den Rückgang des Verbrauchs
von Schnupftabak zurückzuführen war. Dadurch wurden Arbeiter
wie Pflanzer gleichermaßen betroffen. Leder- und Textilindustrie blieben
auch nicht verschont. Eine große Lahrer Textilfabrik mußte 1895 Konkurs anmelden
. In der Betrachtung der wenigen für Dinglingen aufzufindenden Angaben
kommt es allerdings zu einer Verschiebung der Akzente. Der Ort bot
danach in einer Umgebung wirtschaftlichen Niedergangs das Bild einer stabilen
Wirtschaft. 9 Firmen wurden in den Jahren 1892-1896 hier gegründet,
mehr als im gleichen Zeitraum zuvor und danach. Frachtverkehr der Eisenbahnen
und Postverkehr nahmen zu26. 1896 begann sogar ein zaghafter Aufschwung
, denn eine größere Firma beantragte die Erlaubnis zur Erhöhung der
Arbeitsstundenzahl27. Das traumatische Erlebnis der ringsum zu beobachtenden
Existenzbedrohung schien aber auch moralische Wirkung zu haben:
gleich Baden erlebte Dinglingen eine neue Auswanderungswelle.. 3 Personen
zogen es vor in Übersee ihr Glück zu versuchen.
Suchen wir nun nach dem Grund für die hohe Zahl von Unterstützungsempfängern
in jenen Jahren, so scheint es unmöglich einem einzigen Erwerbszweig
die Schuld daran zu geben, vielmehr muß hier ein Geflecht von sich gegenseitig
beeinflußenden negativen Ereignissen in Landwirtschaft und Industrie als
auslösendes Moment steigender Armut angenommen werden. In der Zusammenschau
aller Faktoren läßt sich zumindest erkennen, daß die Landwirtschaft
trotz ihrer schweren Jahre nur einen geringen Anteil an der Erhöhung
der Unterstützungszahlen gehabt haben kann. Da nur etwa 10% aller Erwerbstätigen
auf jenem Sektor tätig waren, scheint es, daß die landwirtschaftliche
Notlage weniger direkt denn auf dem Umweg über verteuerte Nahrungsmittel
auf die wirtschaftliche Gesamtsituation des Ortes wirkte. Auch verringerte die
auftretende Geldknappheit der Landwirte den Umsatz des lokalen Handels.
Als Hauptverursacher hoher Armenzahlen muß demnach der Landbau ausfallen
, als Verstärker einer von anderen Sektoren herrührenden Verarmung ist er
durchaus ernst zu nehmen.
25 August Schaub, Die industrielle Entwicklung der Stadt Lahr, Diss. Freiburg (1921?), S. 43 f.
26 Handelskammerberichte 1892—1896
27 StA Lahr, Bestand Dinglingen Nr. 493
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