http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1981/0252
unterworfen, ausgelöst durch die im nahen Lahr angesiedelte und in Dinglin-
gen sich ansiedelnde Industrie. Industrie und Gewerbe erhielten im Gesamtbild
eindeutig das Übergewicht, die Landwirtschaft ging zurück. Dinglingen
zählte nun zu den industrialisierten Dorfgemeinschaften Badens, wo 1895 immer
noch 43% der Landbevölkerung — gegenüber 10% in Dinglingen — von
der Landwirtschaft lebten30.
Industrialisierung und Armenzahl 1900-1914
Der in den Jahren ab 1898 feststellbare und außerordentliche Anstieg der Un-
terstütztenzahlen erfordert eine Vorbemerkung. Bei diesem Anstieg handelt es
sich um die Einweisung von etwa 10 Kindern in Waisenhäuser und Rettungsbzw
. Zwangserziehungsanstalten. Um diese Zahl muß die Statistik der Armenunterstützung
jährlich bis zum Ersten Weltkrieg bereinigt werden um ein objektiveres
Bild der Verhältnisse gewinnen zu können. Nach der Bereinigung
des Zahlenmaterials ergeben sich zwei Krisenzeiten: 1902 und 1905-1907.
Die Armenzahlen 1902 stiegen um 19%, die Ausgaben der Gemeinde für das
Armenwesen gegenüber dem Vorjahr um 145% (!). 1,77% des Gemeindehaushaltes
mußte für das Armenwesen aufgewandt werden, eine bis dahin nie
erreichte Höhe. So präsentierte sich das Jahr 1902 als ein Jahr mit außergewöhnlichem
Anstieg unterstützungsbedürftiger Einwohner, die Jahre zuvor
boten das Bild eines langsamen Anstieges bis zu diesem Kulminationspunkt,
die Jahre danach zeigten einen nur zögernden Rückgang dieser Unterstützung,
um dann in einer neuen Krise einzumünden.
Die Landwirtschaft hatte seit der Jahrhundertwende eine mäßige, aber nie
schlechte Ertragslage zu verzeichnen gehabt. Es erhoben sich teilweise sogar
Klagen über Personalmangel und Abwanderung der Arbeiter in die überall ansässigen
Filialen der Tabakindustrie31. In der Rinderzucht macht sich allerdings
1902 ein starker Rückgang (-28%) bemerkbar, welcher bei weitem die im
selben Jahr in Baden feststellbare Reduktion um 5% übertraf. Der Rückgang
muß aber auch im Rahmen des seit 1897 anhaltenden Rückganges des Rindviehbestandes
gesehen werden. Es handelte sich damit nicht um ein plötzlich
auftretendes Phänomen sondern um die Verstärkung einer langjährigen Tendenz
. Die Rinder schienen jedoch von der ansässigen Bevölkerung verzehrt
worden zu sein, denn ein Anstieg der Viehtransporte im gleichen Jahr war
nicht zu verzeichnen. Inwieweit Futtermangel beim Rückgang eine Rolle gespielt
haben könnte, ließ sich nicht feststellen. Die Armut unter der in der
Landwirtschaft tätigen Bevölkerung war aber in jenem Jahr besonders groß,
30 Badische Geschichte, a. a. O. S. 113 ff.
31 Handelskammerbericht 1902, S. 83 f.
250
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1981/0252