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sozialer Spannungen, welche dann in einem Hauptkrisenjahr ihren Kulminationspunkt
fanden, um in den darauffolgenden Monaten und Jahren allmählich
zur Beruhigung zu gelangen, so glich das Jahr 1910 einem jähen Wetterleuchten
. Kein auch noch so geringes Zeichen wies im Jahre 1909 auf das
Kommende, keine Spur blieb im Folgejahre der Entladung. Es ergibt sich hieraus
, daß das entscheidende Ereignis für das sprunghafte Ansteigen der Unterstützungsbedürftigen
im Jahr 1909 gesucht werden muß.
Die Dinglinger Ernte war wie in den vorausgegangenen Jahren günstig. Dabei
machte die Traubenernte jedoch eine Ausnahme, denn seit mehreren Jahren
ließen Qualität und Quantität sehr zu wünschen übrig.47 Stark betroffen waren
vor allem die Nebenerwerbslandwirtschaft betreibenden Arbeiter, von denen
die meisten nicht einmal während der Traubenlese ihre Arbeit aufgeben
mußten. Frauen und Kinder, welche auch das ganze Jahr über die Reben gepflegt
hatten, konnten mühelos die spärliche Lese selbst übernehmen48. Eine
Schwächung des Einkommens aus der Nebenerwerbslandwirtschaft ergab sich
jedoch nicht. Das Einkommen stieg im Gegenteil gleichermaßen wie in den
vorangegangenen Jahren49. Die Einkommen aus der Landwirtschaft waren
allgemein gestiegen. 20% aller Landwirte verdienten mehr als 1500 RM im
Jahr, zwei Drittel mehr als 1000 RM und kein Landwirt sank unter 500 RM
Jahresverdienst.511 Somit darf der Grund für die plötzlich anschwellende Bedürftigenzahl
nicht in der Landwirtschaft gesucht werden.
Die Lage in der Industrie glich der der Landwirtschaft. Die Konjunktur des
Jahres 1909 war überaus gut gewesen und es hatte sogar eine Tendenz zu
Überstunden gegeben51. Die Versteigerung der Fahrnisse einer Dinglinger
Malzfabrik widerlegen dies nicht, sondern sind als Faktor der Umstrukturierung
der Brauindustrie zu werten.52 Auch die Versteigerung des Dinglinger
Anwesens eines Lithographen muß wohl eher als persönliches Unternehmerschicksal
denn als Schwächezeichen des Kunstdrucks gewertet werden53. Die
Gefahr kam daher nicht aus der traditionell ortsansässigen Industrie, sondern
aus einer plötzlich entstehenden „Goldgräberkonjunktur". Umfangreiche
Bauarbeiten zur Eisen- und Straßenbahn, Verlegung des Schutterbettes und
Abschlußarbeiten des Wasserleitungsbaues brachten dem Dorf eine kurze und
heftige Spanne der Betriebsamkeit. Unter den hier zusammengezogenen Arbeitern
befanden sich auch viele Ortsansässige. Hierin sollte auch zugleich die
Anfälligkeit für diese Krise liegen. Die im Frühjahr 1909 in ganz Deutschland
47 Handelskammerberichte 1909 u. 1910, auch StA Lahr, Bestand Dingl. Nr. 575
48 Lahrer Zeitung vom 1. 10. 1910
49 StA Lahr, Bestand Dinglingen, Steuerkataster
50 ebd.
51 Handelskammerbericht 1909, S. 119
52 StA Lahr, Gemeinderatsprotokoll Dinglingen 1909, Nr. 38
53 Lahrer Zeitung vom 3. 6. 1910
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