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Doch mit dem gleichen Problem, verbotenes Schrifttum über die Grenze zu
schmuggeln, mußten sich auch die deutschen Sozialdemokraten herumschlagen
: „Die schweizerische Volksbuchhandlung in Zürich (Hottingen)
hatte damals einen großen Schriftenvertrieb in alle Länder, besonders waren
es Volksausgaben der nationalökonomischen Werke sozialistischer Autoren
(Marx, Engels, Lassalle etc.), die zeitgemäß in verschiedenen Sprachen
herausgegeben wurden. Neben Deutschland war damals Rußland ein gutes
Absatzgebiet. Unser Landsmann Josef Belli, der vor drei Jahren auf seinem
Alterssitz zu Gengenbach starb, war Agent jener Züricher Volksbuchhandlung
. Er vollzog den oft verhängnisvollen Versand über die Grenze nach
dem ,Lande der Dichter und Denker' ..." Adolf Geck, der am 7.6. 1930
daran erinnerte, war enger Mitarbeiter Bellis in der „Roten Feldpost" gewesen
, und die Interessen der deutschen Sozialdemokraten trafen sich in be-
zug auf die Verbreitung marxistischen Schrifttums mit der russischen
Gruppe „Befreiung der Arbeit". Es war also nicht so, daß sich Wera S., wie
Fendrich schreibt, „in den Dienst der deutschen Sozialdemokratischen Partei
geflüchtet" hatte, sondern die russischen Emigranten nahmen bei ihrem
schwierigen Unternehmen gerne die Hilfe deutscher Genossen in Anspruch
. Josef Belli widmete in seinem Buch „Die rote Feldpost unterm Sozialistengesetz
" der Zusammenarbeit den Abschnitt: „Vom Konspirieren"
und führt dazu aus: „Neben unserer Feldpost mußten wir in dieser Zeit den
russischen und polnischen Genossen oft Unterstützungsarbeit leisten. In
Genf und Paris wurden ihre Propagandaschriften gedruckt, die über die
deutsche und russische Grenze zu schwärzen waren. Im Ausland war es den
Leuten schwer, Verbindungen zu finden. Wir griffen gern tätig mit ein und
erlebten dabei manchmal komische Augenblicke; denn diesen gewiegten
Konspiratoren, so nannten sie sich gewöhnlich selbst, waren überzeugt, uns
unbeholfenen Deutschen eine Ehre zu erweisen, indem sie unsere Hilfe in
Anspruch nahmen. Bei solchen Expeditionen zeigten ihre Frauen Energie
und Ausdauer. Im Frühjahr 1882 brachte eine russische Genossin eine
schwere Ladung mit aus Genf. Damit suchte sie bei uns Rat und Hilfe. Der
Postmeister verwies sie an unseren Posten in Basel." Belli schilderte die unermüdliche
Arbeit der Russin beim Einpacken der Ware in Hüningen, wohin
man nachts um 1 Uhr alles hingeschafft hatte. Morgens um 5 Uhr fuhr
Belli mit der Russin über Straßburg nach Offenburg: „Bei Ankunft der gemeldeten
Familie ,Biedermann' in Offenburg stand wie immer der Toni mit
.Kommerzienrats' Fuhrwerk an der Güterhalle. Wir packten um und schickten
die Sachen weiter. Kommerzienrats altes Mütterlein bereitete uns ein
kräftiges Mahl, das wir im Nebenzimmer des ,Zähringerhofes' zu uns nahmen
. Niemand sonst durfte herein". Belli nennt keinen Namen, aber es
dürfte sich auch in diesem Falle um Wera Sassulitsch gehandelt haben.
Leider hat Adolf Geck über seine Beziehungen zu den revolutionären russischen
Emigranten nichts Näheres berichtet und auch keinen Zeitpunkt ge-
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