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Gräfin. Er verteidigt die Revolutionäre heftig, indem er Verständnis für ihr
Aufbegehren zeigt:
Freilich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes
besessen und sich darinne gepflegt; vielmehr haben sie die
Unbequemlichkeit der vernachlässigten Teile eures Staatspalastes
mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt
darin zubringen mußten.48
In den „Unterhaltungen" ist die Gestalt Karls klar als begeisterter Revolutionsanhänger
gezeichnet, während im „Mädchen von Oberkirch" der Enthusiasmus
des Barons sehr leicht ins Wanken zu bringen ist.
Auch Ähnlichkeiten zwischen der Figur der Baroness in den , Unterhaltungen
" und der Gräfin im „Mädchen von Oberkirch" lassen sich in den beiden
Dichtungen finden. Sie bestehen in der Bereitschaft, Verständnis für die
revolutionären Vorgänge aufzubringen, und dem Bemühen, ausgleichend zu
wirken. In den „Aufgeregten", einem Dramenfragment, das Goethe als ein
„politisches Drama"49 und sein „politisches Glaubensbekenntnis jener
Zeit"50 ansah, finden wir ebenfalls eine Gräfin. Goethe macht aus ihr eine
demokratische Aristokratin, die Augenzeugin der Pariser Ereignisse war.
Ihr Verhältnis zu den Vorgängen in Frankreich ist ambivalent: „Ich habe
wunderbare Begebenheiten gesehen, aber wenig Erfreuliches."51 Die Gräfin
hat aus ihren Beobachtungen gelernt, wie aus ihrer Unterhaltung mit
dem Hof rat (111,1) deutlich wird:
So habe ich mir fest vorgenommen, jede einzelne Handlung, die mir
unbillig scheint, selbst streng zu vermeiden und unter den Meinigen,
in Gesellschaft, bei Hof, in der Stadt über solche Handlungen meine
Meinung laut zu sagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr
schweigen, keine Kleinheit unter einem großen Scheine ertragen, und
wenn ich auch unter dem verhaßten Namen einer Demokratin verschrien
werden sollte.52
Wie aus dem Gespräch mit Eckermann vom 4. Januar 1824 hervorgeht, beabsichtigte
Goethe sehr wohl, die von der Gräfin dargelegte Gesinnung als
„respektabel" darzustellen, denn, so meint er: „Sie war damals die meinige
und ist es noch jetzt."53
Schauen wir auf die Figur Maries. Obgleich sie selbst in dem ausgearbeiteten
Teil des Dramas nicht auftritt, erfahren wir einiges über ihre menschlichen
Qualitäten. Marie tritt Goethes Dorothea in seinem Epos „Hermann
und Dorothea" an die Seite. Dorothea, eine Emigrantin aus dem linksrheinischen
Gebiet, wird uns als vollkommene, tugendhafte Frau vorgestellt,
der durch ihre Ehe mit Hermann ein neuer Anfang ermöglicht wird.54 Wie
später Eugenie am Anfang der „Natürlichen Tochter," besitzt Marie alle
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