http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1990/0455
1910 öffnete sich dieser elitäre rassenhygienische Zirkel und strebte an, die
rassenhygienischen Gedanken und Ziele einer breiteren Öffentlichkeit bekannt
zu machen. Vor allem Ärzte wurden von den Rassenhygienikern
angesprochen und traten der Gesellschaft bei.6 Auf der internationalen
Hygieneausstellung 1911 in Dresden betrieben einige Rassenhygieniker aus
Privatinitiative einen Stand. Kernpunkte und Zielrichtung der Rassenhygiene
wurden wie folgt zusammengefaßt7:
,,Alle Kulturvölker sind von Degeneration bedroht, und alle müssen eine
außerordentlich große Zahl von Minderwertigen, Schwächlichen, Kränklichen
und Krüppeln mit sich schleppen."8
Sie forderten vom Staat rassenhygienische Erhebungen, damit die damalige
Situation des Volkes genau erkannt wurde.
Das Erlöschen der familiären Fortpflanzungsfähigkeit und der daraus resultierende
Geburtenrückgang wurden angeprangert. Als eine der wichtigsten
Maßnahmen wurde die Selektion der sich fortpflanzenden Eltern gefordert,
ebenso die Überwachung der Fortpflanzung unter dem Gesichtspunkt der
Vererbung, der Degeneration und des Geschlechts. Wichtig war für diese
Denkrichtung auch die Pflege der Heranwachsenden, besonders hinsichtlich
der Wahrung der Fortpflanzungskräfte. Vor allem in der Überwachung
und in der Kontrolle sahen diese Rassenhygieniker unter Berufung auf
Ploetz die Aufgabe der Rassenhygiene.
Dieser leistungszentrierte Blickwinkel der Rassenhygiene entspringt einer
Leistungsgesellschaft, die die Vorherrschaft des Deutschen Reiches über
den Weg der künstlichen Zuchtwahl und Ausrottung von Minderwertigem
garantieren wollte.9 Es verwundert daher nicht, daß auch der rechtskonservative
Alldeutsche-Verband, der für eine rigorose Großmachtspolitik eintrat
, Platz für die rassenhygienischen Gedanken fand.10
Die Gedankenwelt der Rassenhygiene hatte schon im Kaiserreich in den
Köpfen der Bildungsbürger Platz gefunden. Auch nach dem Ersten Weltkrieg
war dieses Gedankengebäude in dem überwiegend demokratiefeindlichen
Bürgertum beheimatet, dies vielleicht gerade im Gegensatz zu der
sozialen Gesetzgebung der Weimarer Republik.11 1920 veröffentlichten der
Jurist Prof. Karl Binding (Leipzig) und der Mediziner Prof. Alfred E.
Hoche (Freiburg) das Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten
Lebens".12 Hier versuchten sie sowohl eine rechtliche als auch eine medizinische
Grundlage für die Vernichtung folgender Personengruppen zu konstruieren
:
1. infolge Krankheit oder Verletzung unrettbar Verlorene,13
2. unheilbar Blödsinnige,14
3. zwar geistig Intakte, die aber durch „tödliche Verwundungen in namenlosem
Elend leben würden".15
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