http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1990/0477
Am 14. Juni informiert Pfarrer Gilbert den Evangelischen Oberkirchenrat
in Karlsruhe: „Es hat den Anschein, als ob Kork verschwinden solle."109
Vier Tage später gibt er die Todesmitteilung aus Grafeneck: „am 15.6. 1940
ist Lydia P. infolge Atemlähmung im epileptischen Anfall verstorben" nach
Kork weiter und kommentiert: „Atemnot hatte doch Lydia nie gehabt!"110
Bereits am 23. Juni schreibt die Schwester des Opfers an die badische Kirchenleitung
, daß weitere sechs Frauen aus Kork „verstorben" seien, und
fordert die Kirchenleitung auf, sich an zuständiger Stelle Klarheit zu verschaffen
.111 Sie schreibt am 25. Juni auch direkt nach Grafeneck und fragt:
„Was hat man an diesen Menschen vorgenommen?" Grafeneck antwortet
auf diesen Brief mit der Aufforderung, die Verdächtigungen zurückzunehmen
und mit der Androhung von Ermittlungen durch die Gestapo.112
Nachdem sich am 18. Juni die badische Kirchenleitung mit dem Thema befaßt
hatte, suchte Pfarrer Meerwein am nächsten Tag Dr. Sprauer auf, in
dessen Händen die „Aktion T4" in Baden lag. Pfarrer Meerwein erklärte
Dr. Sprauer, er wisse nun, „was los wäre und was mit den abtransportierten
Patienten geschehen wäre". Daraufhin unterbrach ihn Dr. Sprauer und drohte
ihm mit Verhaftung, falls Meerwein weitersprechen würde.113 Noch am
selben Tag ging Pfarrer Meerwein zu Landesbischof Dr. Kühlewein. Unter
demselben Datum vom 19. Juni 1940 wandte sich daraufhin die badische
Kirchenleitung gegen die Praxis der Verlegung von Heimbewohnern und
Patienten in Pflegeanstalten.114 Doch die Euthanasiemaßnahmen bleiben in
diesem Schreiben unerwähnt. Sie drängte bei den Verantwortlichen im badischen
Innenministerium nicht einmal auf Beantwortung dieser Eingabe. Als
einen Monat später der württembergische Landesbischof Theophil Wurm
ein Schreiben an Reichsminister des Inneren Frick schreibt, nimmt die badische
Kirchenleitung dieses Schreiben lediglich zur Kenntnis.115 Eine
Unterstützung Wurms oder ein eigenständiger Vorstoß der badischen Kirchenleitung
erfolgten in diesem Zusammenhang nicht.
Gleichwohl ist während des ganzen Jahres 1940 mit zunehmender Tendenz
Empörung und Protest in Kirchenkreisen zu erkennen. Bereits im Februar
wußte man bei der württembergischen Inneren Mission um die Vernichtungspraxis
in Grafeneck. Pfarrer Alfons Schlosser vom Landesverband der
Inneren Mission in Württemberg übersandte am 30. März einen Bericht
über Grafeneck an den „Centrai-Ausschuß der Inneren Mission" in Berlin.
Ein weiteres Beispiel ist Pastor Paul Braune, der bereits im Mai 1940 die
Herausgabe von 25 Mädchen verweigert und eine Denkschrift erarbeitet
hatte, die er als Vizepräsident des , ,Central-Ausschusses der Inneren Mission
" am 16. Juli an den Kirchenminister und an die Reichskanzlei in Berlin
richtete.116 Bereits im Vorfeld informierte er führende politische Kreise
über die Vorgänge in den Vernichtungsanstalten. Am 19. Juli protestierte
Landesbischof Wurm beim Reichsminister des Inneren, Wilhelm Frick, gegen
die Tötung behinderter Menschen.117
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