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Einem besonderen Mißstand sucht er in dieser Zeit zu Leibe zu rücken: In
einem Vortrag ermahnt er die Mütter, ihren Kindern das Mosttrinken zu untersagen
. „Der Erfolg", so schreibt er, „war freilich niederschmetternd:
Die Kinder kamen nach Hause und setzten sich hinter den Mostkrug, so
stellte ich im Laufe der Woche in der Schule fest." (S. 124). Dieses Beharren
auf Gewohnheiten, das Festhalten an Traditionen, sowohl guten als auch
schlechten, kommt in Reitingers Chronik immer wieder zum Ausdruck. Was
Reitinger einerseits Ärger und Verdruß verursacht, nämlich die scheinbar
vergebliche Überzeugungsarbeit, hat andererseits auch seine guten Seiten.
Denn es gelingt Partei und Staat nicht, religiöses Brauchtum zu beseitigen
und durch NS-Rituale und -Symbolik zu ersetzen: Obwohl verschiedene
Feiertage wie Christi Himmelfahrt, Fronleichnam und Allerheiligen nun als
Werktage gelten und Gottesdienste nur abends gehalten werden können bzw.
verboten sind, werden die kirchlichen Feiern nachgeholt unter großer Beteiligung
der Gemeinde. Andererseits finden staatliche Neuerungen, z. B. die
Feier des 1. Mai als nationaler Feiertag, wenig Gegenliebe. Eine kleine
Notiz Reitingers mag die Haltung der Bevölkerung verdeutlichen: ,,An diesem
Tage traf unser Ortsgruppenleiter und Bauernführer eine Frau an, die
Wäsche hielt - eine Mutter von 5 Kindern, deren Mann im Krieg gefallen
ist; er stellte sie zur Rede, daß sie an diesem höchsten Feiertag des deutschen
Volkes arbeite. Ihre Antwort: ,Weischt, Sepp, ich will dir was sage:
des isch für mich e rechter Vagabundefiertig; für mich isch Fiertig, wenn
der Pfarrer Frühmess und Amt verkündt'." (S. 136).
Während sich die Todesnachrichten häufen, die Arbeitsbelastung der Zivilbevölkerung
schier unerträglich wird, die 14—17jährigen Jungen zu Schanzarbeiten
ins Elsaß müssen und die Aussichten auf ein siegreiches Ende des
Krieges in weite Ferne schwinden, erscheint am 6. Mai 1944 die Parole des
Gauleiters von Elsaß-Baden, Robert Wagner, in allen Zeitungen: „Tapfer
bleiben und stur geradeaus gehen." Reitingers Kommentar: „Stur — das
war im bisherigen deutschen Sprachgebrauch ein Mensch, der nichts denkt,
der borniert auf irgendetwas losgeht. Und diese Parole für das Volk der
Dichter und Denker! Es beibt wohl doch bei dem, was ein weiser Mann als
die Signatur unserer Zeit bezeichnet: Gleichschaltung der Beine — Ausschaltung
der Gehirne." (S. 137).
Und zur Ankündigung des totalen Krieges durch Propagandaminister Goebbels
bemerkt Reitinger: „Er (der Krieg) wird für uns weitere Einberufungen
UK-Gestellter bringen, ferner den Zwang zur erhöhten Ablieferung und
unerbittliches Vorgehen gegen jede Art von Kritik, Kriegsmüdigkeit und
ähnlicher Stimmung; ein Volk soll durch Terror regiert werden." (S. 142).
In das Szenario dieser Endzeitstimmung passen viele Dinge: die schon erwähnten
Schanzarbeiten der Jugendlichen im Elsaß; die Bauern haben bei
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