http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1991/0336
Otto Kähni sprach etwa in einem Kapitel seiner Stadtchronik der ganzen
Offenburger Stadtgemeinde die Sittlichkeit ab:
„Der Rat hatte wahrhaft allen Grund, über das Leben der Bürger zu wachen; wir müssen
eine ungeheure sittliche Verwilderung feststellen. Die Ratsprotokolle enthüllen von der Lebensart
der Bürger eine höchst unerfreuliches Bild."71
O. E. Sutter kommentierte 1951 fassungslos einen Erlaß über das Verbot
diverser Volksbräuche:
„Während man heutzutage die von unseren Vätern übernommenen Sitten und Gebräuche zu
erhalten, ja wieder einzuführen sucht, während man mit liebevollem Eifer alle alten und
neuen Berichte darüber sammelt und veröffentlicht, während man durch Trachtenfeste und
durch Preise für die schönsten Trachten dieselben neu zu beleben bestrebt ist, müssen wir
aus dem folgenden Befehl vom Dezember 1769 an die Gemeinde Bleichheim erkennen, daß
damals die Ansichten über alte Volksbräuche andere waren als heute."72
Frömmigkeit und Sittlichkeit sind Bereiche menschlichen Lebens, die sich
nicht einfach in unsere moderne Begriffswelt integrieren, aber auch nicht
zu einer anthropologischen Konstante reduzieren lassen.
Vorstellungen und Meinungen über die Bedeutung von „Sittlichkeit" und
„Frömmigkeit" konnten auch früher (nicht nur in der heutigen Zeit) innerhalb
einer Generation ins Wanken geraten. Schlagen wir die Seiten der
Geschichtsbücher um etwa zweihundert Jahre zurück und gelangen ins ausgehende
18. Jahrhundert.
Wir stoßen hier auf die Bemühungen der katholischen Spätaufklärung unter
der Regie Josephs II. in der vorderösterreichischen Ortenau.
Losli Bodi fand jüngst in der ZEIT Analogien zwischen der Reformpolitik
Gorbatschows und der Politik im Osterreich Josephs II.73 Seine Herrschaft
ist das radikalste Beispiel des „aufgeklärten Absolutismus". Sie beruhte
auf dem Glauben des Kaisers und seiner Mitarbeiter an die Möglichkeit
menschlicher „Perfektibilität" und einer vernünftigen und gerechten
Gesellschaft.
Durch die josephinischen Reformen veränderte sich das Verhältnis von Staat
und Kirche in den vorderösterreichischen Landen grundlegend.
Sämtliche, kirchliche Angelegenheiten betreffende Entscheidungen wurden
einem landesherrlichen Placet unterstellt. Mit dem Dekret vom 26. März
1781 begann die schrankenlose Einflußnahme der Landesherrn auf die Kirche
.74 Religion und Kirche bekamen die sittlich-moralische Belehrung und
die verstandesmäßige Schulung als gesellschaftliche Aufgabe übertragen.
„Über diese sollte die auf mangelnder Bildung beruhende Bigotterie in der Bevölkerung, die
wirtschaftliche, wissenschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen hemmten, überwunden
werden. Die systematische Verwirklichung des Staatskirchentums ließ die Kirche
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