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Leichenansagen und Bettel im Jahre 1883
Dieter Kaliß
Laut „Verzeichnis über die seit dem 1. Januar 1872 verurtheilten Personen
"1 in Oberwolfach wurde das unberechtigte Leichenansagen dort mit
einem Tag Haft bestraft. Zum berechtigten Brauchtum des Leichenansagens
vermerkt E. H. Meyer noch im Jahre 1900 folgenden Tatbestand2: ,,In den
Thälern wie im Kinzig-, Prech- und Wiesenthal und in Tennenbronn sagt
noch eine bestimmte Frau, die Leichenbitterin oder Lichsagere, an, einen
Rosenkranz in der Hand und einen Korb auf dem Rücken, um darin ihren
aus Brot, Speck und Bohnen bestehenden Lohn heimzutragen". Sie sagt an,
wer verstorben ist und wann das Begräbnis stattfindet. Sie bittet um ein Vaterunser
für den Verstorbenen. Im anschließenden Gespräch konnte man
von ihr dann noch nähere Umstände zum Tode des Betreffenden erfahren.
Die Leichenansagerin vermittelte also die Todesnachricht und wurde dafür
belohnt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das selbst in den abgelegensten
Gemeinden des Schwarzwaldes durch Hunger, Not und Elend
geprägt war, führte gerade die Entlohnung der Leichenansagerin zu Mißständen
und Mißbräuchen, die im Jahre 1883 die Stadt Zell a. H. veran-
laßten, dagegen mit ortspolizeilichen Vorsichtsmaßnahmen einzuschreiten.
In einem Brief vom 25. Juni 18833 an den Bürgermeister von Nordrach
weiß dazu der Zeller Bürgermeister Fischer zu berichten: ,,Vor noch nicht
langer Zeit haben Weibspersonen, die nicht ermittelt werden konnten,
in Steinach, Welschensteinach und Bollenbach die Beerdigung des Herrn
Albert Neher hier, der heute noch lebt und nicht krank war, angesagt;
eine Mühlenbacher Person hat zur Leichenfeier eines dort bekannten und
noch lebenden Hofbauern eingeladen; von auswärts treffen hier (d.h. in
Zell a. H.) Leichenansagen ein, die den Tod eines 4—12 Monate alten Kindes
ansagen und namens der Eltern um Anwohnung der Leichenfeier bitten,
was doch bei Kindern nicht üblich ist, usw. usw. Es wird einfach Unfug getrieben
; durch das Ansagen soll in vielen Fällen nur der Bettel verdeckt
werden."
Der letzte Satz zeigt die soziale Dimension des unberechtigten Leichenansagens
in aller Offenheit und Realität.
Offensichtlich ist dies auch der Grund, warum der Zeller Bürgermeister im
Text des Schreibens auf den Vorwurf sehr detailliert eingeht, daß fast täglich
Frauen aus seiner Stadt in eine andere Gemeinde kommen, um dort Todesfälle
in Zell anzuzeigen. Dies könne man einerseits nicht für wahr halten,
denn im Verlauf des Jahres 1883 gab es bis zum 25. Juni (Datum des Brie-
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