http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau1996/0364
- daß der nunmehrige Kaiser Wilhelm I., der „Henker der Freiheit", dem
Volksmann und Revolutionär gegenübergestellt wird.
Intention des Dichters ist es, das Volk durch den Hinweis auf die Untaten
des Fürsten zum Kampf für die politische Freiheit zu bewegen.
Um der agitatorischen Zielsetzung willen personalisiert der Autor den Gegensatz
zwischen Revolution und Reaktion. In der Wirklichkeit haben der
badische Großherzog und seine Regierung 1849 auf hartes Vorgehen gegen
die Besatzung von Rastatt gedrängt, während Prinz Wilhelm zur Zurückhaltung
tendierte. Dies wird im Gedicht nicht erwähnt.
Autor des Gedichts ist ein Badener, Otto Hörth (1842-1935). Er schrieb
das Gedicht unter dem unmittelbaren Eindruck der Kaiserproklamation in
Versailles, an der er nicht teilgenommen hat, sondern über die er durch
Zeitungsberichte informiert war. Der Inhalt und die Tendenz des Textes
machen es begreiflich, daß Hörth das Gedicht nicht in Deutschland veröffentlichen
konnte. Deshalb schickte er es an den unter den deutschen Demokraten
noch gut bekannten Karl Peter Heinzen, der selbst an dem badisch
-pfälzischen Aufstand des Frühjahrs 1849 teilgenommen hatte und
der dem Strafgericht der Sieger entkommen war.
Wir wüßten nicht, daß Hörth der Verfasser ist, wenn er nicht ein Jahr später
ein weiteres Gedicht mit der Bitte um Veröffentlichung an Heinzen geschickt
hätte. Dieses Gedicht „Ein neues Wintermärchen. Besuch im neuen
deutschen Reich der Gottesfurcht und der frommen Sitte von Heinrich
Heine" ist eine Paraphrase auf Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen
". Es erschien ebenfalls zuerst in Heinzens Zeitschrift „Der Pionier
", wie „Zur Kaiserfeier" ohne Nennung des Verfassers. In der Schweiz
hergestellte Nachdrucke wurden in großer Zahl nach Deutschland geschmuggelt
. Eine letzte Auflage erschien 1919 in Frankfurt am Main, wie
die vorhergehenden Auflagen anonym; nach dem Ende der Monarchie
brauchte das Werk nicht mehr heimlich aus dem Ausland nach Deutschland
gebracht zu werden. Das kleine Versepos wurde als politik- und gesellschaftskritische
Darstellung der Verhältnisse im 1871 gegründeten
Deutschen Reich vor allem von sozialdemokratisch orientierten Arbeitern
gelesen.
In dem Brief, mit dem Hörth Heinzen das „Neue Wintermärchen" zum
Druck anbot, nimmt er auf sein Gedicht vom Jahr zuvor Bezug. Er schreibt
am 14. Januar 1872 aus München: „Sehr geehrter Herr! Wenn Ihnen mein
Name auch unbekannt klingen mag, so sind wir uns doch nicht so fremd,
als es beim ersten Anblick scheint. Ich bin Redakteur des ,Deutschen
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