http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2001/0455
„Seit der Sache Stalingrad hin ich ohne Nachriehl
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nicht bekannt, daß es heute - ausgenommen Strafgefangenenlager - noch
Lager in Rußland geben soll, die überhaupt nicht schreiben dürfen, oder
daß Leute, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, nicht schreiben dürfen.
Wenn bis heute von einem Vermißten noch keine Nachricht eingegangen
ist, so ist das sehr bedenklich.
Ich selbst bin am 7. Januar 1948, nach fast 5jähriger Gefangenschaft
wie durch ein Wunder, zwar krank und siech, zu meinen Lieben heimgekehrt
."
Seit der Kapitulation der deutschen Truppen in Stalingrad hatte Familie
Keßler in Forbach drei Jahre lang nichts mehr von dem Ehemann und Vater
gehört. Die Ungewißheit über sein Schicksal war bedrückend, so daß
die materielle Notsituation nach Kriegsende in den Hintergrund trat. Dann
geschah das Wunder: Am 5. Februar 1946 traf das erste Lebenszeichen ein
in Form eines Gefangenenbriefes:
„29. 12. 45. Meine Lieben! An der Schrift werdet Ihr erkennen, daß ich
tatsächlich noch am Leben bin. Und mit mir hoffen viele Stalingrader -
trotz gegenteiliger Propaganda von Goebbels - die Heimat wiederzusehen.
Damals hat man uns belogen und betrogen. Großes Elend hat die Hitler-
Clique über Deutschland gebracht. Mir geht es recht gut. Ich bin gesundheitlich
voll auf der Höhe und wünsche dasselbe auch von Euch. Ich habe
die feste Zuversicht, daß wir uns im neuen Jahr wiedersehen. Wie mag
wohl die Heimat aussehen? Seid Ihr und all unsere Verwandten noch am
Leben? Mit großer Spannung erwarte ich Euer 1. Lebenszeichen. Durch
das deutsche Rote Kreuz könnt Ihr Einzelheiten wegen des Schreibens erfahren
. Und nun mit neuem Mut ins Neue Jahr, tausend Küsse und herzliche
Grüße für Euch und alle Bekannten. Euer Papa."
Im Juni traf ein weiteres Lebenszeichen ein, datiert vom 12. 3. 1946. In
diesem Schreiben berichtete Keßler über das Lagerleben. Es ist dabei erkennbar
, daß die Formulierungen bewußt positiv und optimistisch gewählt
sind. Durch das Weglassen kritischer Anmerkungen über die Lebensumstände
im Lager konnte er verhindern, daß die Zensur die Weiterleitung
des Briefs unterband.
„Meine Lieben! Ich freue mich, Euch wieder einmal ein Lebenszeichen
geben zu können. Es geht mir gesundheitlich sehr gut, auch diesen Winter
habe ich ohne Beschwerden überstanden. Mit großer Aufmerksamkeit verfolge
ich die politische Entwicklung in der Heimat. Oft erfaßt mich eine
heilige Wut, wenn ich bedenke, welches Unglück dieser Hitler über
Deutschland gebracht hat. Hoffentlich seid Ihr noch alle am Leben, dann
will ich alles andere gerne verschmerzen. In unserem Lagerleben haben
wir durch kulturelle Veranstaltungen und Musik viel Abwechslung. Heute
nachmittag wirke ich bei Darbietungen unseres Orchesters unter der Leitung
von 2 verschiedenen Dirigenten als Preisrichter mit. Jetzt kommt bald
die schöne Frühlingszeit. Überall beginnt in der Natur neues Leben. Möge
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