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Horst Brombacher
die Zeit der Trennung nicht mehr allzulange dauern. Dann wollen auch wir
mit frischem Mut ein neues Leben beginnen. Zum bevorstehenden Osterfest
Euch und allen Bekannten alles Gute und zu Mamas Geburtstag meinen
allerherzlichsten und innigsten Glückwunsch. Hoffnungsfroh und zuversichtlich
grüßt Euch Euer Papa."
Der Überlebenswille und die positive Grundeinstellung werden in
diesen Zeilen deutlich. Nach seiner Rückkehr erfuhr seine Familie, daß
Michael Keßler im Gefangenenlager selbst Vorträge gehalten hatte und an
allen kulturellen Veranstaltungen teilnahm. Es gab dort nicht nur ein Lagerorchester
, sondern gefangene Professoren und Lehrer hielten Vorträge und
wissenschaftliche Seminare. So konnten die Gefangenen der geisttötenden
Eintönigkeit des Lagers entkommen. Den Angeboten der Sowjets, sich
politisch als Gegner der Nazis bei der Umerziehung der Gefangenen zu
betätigen, erteilte er dagegen stets eine Absage. So hielt er zwar während
der Gefangenschaft im Radio Vorträge, jedoch immer über kulturelle Themen
, nie über politische. In den Briefen mußte er sorgfältig formulieren.
Unbedachte Äußerungen, eventuell gegen die Zustände im Lager oder die
Sieger gerichtet, führten zum Eingreifen der Zensur, die dann die entsprechenden
Passagen schwärzte oder den Brief gar nicht beförderte.
Von der Zensur bearbeitete Gefangenenpost M. Keßlers
Hoffnung auf baldige Entlassung und Enttäuschungen über zerschlagene
Hoffnungen spiegeln die Gefangenenbriefe Michael Keßlers wider. 27
Briefe, von denen die meisten ihren Empfänger erreichten, schrieb Frau
Keßler an ihren Mann. In ihnen berichtete sie vom Leben der Familie im
Murgtal und den Lebensbedingungen während der Nachkriegszeit. Immer
äußerte sie auch die Überzeugung, daß die Trennung bald vorüber wäre.
Groß war dann die Freude, als ein Telegramm die Ankunft des Heimkehrers
Michael Keßler ankündigte.
Zwischen den Heimgekehrten gab es einen intensiven Zusammenhalt.
Das gemeinsame Erleben der Gefangenschaft und zuvor die Ereignisse im
Krieg hatten dazu geführt, daß diejenigen, die das Glück hatten, früher entlassen
zu werden, die Angehörigen von noch nicht entlassenen Kriegsgefangenen
und von Gestorbenen informierten. Sie schilderten nach ihrer
Rückkehr nach Deutschland in ausführlichen Briefen, was sie über den
Mitgefangenen wußten. So erhielt Frau Keßler bereits Ende September
1946, etwa ein Jahr vor der Rückkehr ihres Ehemanns, einen Brief aus
Konstanz. In ihm berichtete ein heimgekehrter Soldat in einer genaueren
Schilderung, was er über ihren Ehemann wußte:
„Sehr geehrte Frau Kessler! Bis zum 17. Juni des Jahres war ich mit
Ihrem Gatten im Lager 97 (Jelabuga ostwärts Kasan) zusammen. Bis zu
diesem Zeitpunkt war er gesund und immer guter Dinge. Ich wüßte auch
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