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„Seit der Sache Stalingrad bin ich ohne Nachricht
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nicht, daß er in den letzten Jahren eine schwerere Krankheit mitgemacht
hätte. Was allerdings vor November 43 war, kann ich nicht sagen. Ich
kannte Ihren Gatten recht gut, und wir haben manches Mal von der schönen
Heimat und insbesondere dem Murgtal geplaudert. Der Gedanke an
die Lieben daheim und die Hoffnung auf eine baldige Heimkehr hielten
uns aufrecht. Ich selbst bin als Invalide entlassen worden und so weit mir
bekannt ist, entlassen die Sowjets nur chronisch Kranke und Invaliden. Als
nächste dürften dann wohl die älteren Herren drankommen, zu denen ja
wohl auch Ihr Gatte zählt, da diese in ihrer Arbeitskraft für die Russen
nicht so wertvoll sind. Inzwischen wird er wohl auch das Lager gewechselt
haben. Hat er die Nr. 119, dann befindet er sich in der Nähe von Kasan, hat
er eine Lagernummer, die in die Vierhundert geht, dann befindet er sich in
der Nähe von Pensa. - Was soll ich Ihnen sonst viel von der Gefangenschaft
erzählen, Kriegsgefangenschaft ist immer ein bitteres Los. Die
schwerste Zeit hat Ihr Gatte ja überwunden, und ich bin überzeugt, daß er
auch den Rest gut überstehen wird.
Ich wünsche Ihnen, daß er bald zu Ihnen heimkehren möchte, so gesund
, wie ich ihn verlassen habe und begrüße Sie hochachtungsvoll
Paul Sch."
Ein weiterer Brief, der im selben Monat bei Frau Keßler eintraf, stammte
von einem Heimkehrer aus Karlsruhe. Im Inhalt entsprach er dem ersten,
so daß die obige Schilderung ihre Bestätigung fand. Auffällig ist in beiden
Briefen, daß nur die positiven Aspekte hervorgehoben sind, um Hoffnung
zu machen und wohl auch als Trost für die immer noch Wartende. Am 30.
Dezember 1946 erreichte ein weiterer Brief Frau Keßler, in dem es unter
anderem heißt: „... Daß er immer noch keine Nachricht von Ihnen hat, ist
eigentlich kaum zu verstehen ... Lassen Sie sich nicht beirren, Frau Keßler,
und schreiben Sie immer wieder. Einmal kommt doch etwas in den Besitz
Ihres Mannes. Denn um das körperliche Wohlergehen Ihres Mannes brauchen
Sie sich nicht so sehr Kummer zu machen wie um das seelische.
Also: schreiben, schreiben! Ich hoffe ganz bestimmt, daß er im Laufe des
1. Halbjahrs 1947 auch nach Hause kommen wird, man hat schon dieses
Jahr davon gesprochen, daß alle über 50 Jahre entlassen werden sollen. ..."
Solche Hoffnung erweckenden Briefe waren wichtig für alle zu Hause
Wartenden. Dessen war sich Michael Keßler auch bewußt, und nach seiner
Rückkehr stellte er sich ganz in den Dienst, zur Aufklärung von Soldatenschicksalen
beizutragen. Der Vermißten- und Flüchtlingssuchdienst für die
französische Besatzungszone (Zonenzentrale Rastatt/Baden) gab seine
Adresse bei Anfragen weiter. Die Nachfragenden schrieben dann direkt an
ihn, so daß für ihn ein umfangreicher Schriftverkehr entstand. Schwerpunkt
seiner Auskünfte waren die Soldaten seiner Kriegseinheit, aber auch
seiner Gefangenenlager. Dabei konnte Keßler zu Anfragen, die seine Feld-
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