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Quirin Moscherosch und sein älterer Bruder Johann Michael
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tierten mit ganz neuartigen, aus der Spätantike bezogenen Gedichten wie
dem ,Figurengedicht' (siehe auch Abbildung auf der folgenden Seite), das
wir im 20. Jahrhundert erst durch den Dadaismus und die experimentelle
Poesie wieder entdeckt haben.19 ,Figurengedichte', das sind solche Gedichtformen
, die nicht nur dem Sinn nach erfasst werden wollen, sondern
auch als optische Figuren. Sie bilden durch die typographische Anordnung
von kurzen und langen Versen eine Figur ab, einen Kelch bei einem Trinklied
zum Beispiel oder ein Herz bei einem Liebesgedicht.
Mocherosch hatte solche Figurengedichte auf Nürnberger Art schon früher
verfasst. Zum Kirchweihfest in Willstätt, 1657, von dem ich schon
sprach, hat er zum Beispiel ein Gedicht in Form eines Trinkpokals zusammengestellt
. Es wurde wohl beim Toast auf Graf Reinhard überreicht.20
In seiner letzten Gedichtsammlung mit dem Titel ,Poetisches Blumen-
Paradies', 1673 in Nürnberg gedruckt, bewies Quirin Moscherosch, dass er
die neuen, von den Nürnbergern gepflegten Versformen und Dichtungsarten
beherrschte. Seine besondere Spezialität waren anagrammatische Gedichte
, das heißt solche, in welchen die Buchstaben eines geschriebenen
Namens oder eines Begriffs umgestellt, in eine andere Reihenfolge gebracht
werden, so dass neue Wörter, neue Begriffe entstehen, die in einer
geistreichen Beziehung zu den ursprünglichen Namen und Begriffen stehen
. In den neuen Begriffen müssen alle Buchstaben wieder zu finden sein.
Auf einfacher Ebene ist die Umbildung von Willstätt in Sittewalt, die Johann
Michael vornahm, ein solches Anagramm. Quirin Moscherosch schuf
Bodersweier, den Ortsnamen, in Oberweisherd um, wenn er sich in seinen
Gedichten in die Rolle eines Hirten begab. Man sollte ,die weiße Herde'
assoziieren. Das mutet uns heute wie eine nichts sagende Spielerei an. Die
Poeten des 17. Jahrhunderts sahen das anders. Für sie war Sprache und
Schrift ein von Gott geschaffenes System voll inneren Beziehungen, denen
es nachzugehen, die es zu entdecken galt. Sie glaubten an eine geheime
Beziehung zwischen dem Ortsnamen Willstaett und den umgeformten
Wörtern Sittewalt (= ein Ort, in dem Sitte waltet, oder Wildstaett = nach
der Zerstörung eine wilde Stätte). Aus diesem magischen Sprachverständnis
erklärt es sich dann auch, dass die Nürnberger und Moscherosch soviel
größeren Wert als ihre Vorgänger auf die Klangqualität von Wörtern und
Versen legten.
Die Nürnberger verliehen Quirin den Gesellschaftsnamen ,Filander von
Sittewalt', also den Namen, unter dem die Schriften Johann Michaels nun
europaweit bekannt waren. Sie ehrten damit zugleich den älteren Moscherosch
, der 1669 gestorben war. Es sieht nicht danach aus, dass Quirin
nach der Aufnahme 1673 irgendeinmal an den Sitzungen des Pegnesischen
Blumenordens teilgenommen hätte.
Schon 1672, mit Ausbruch des ,Holländischen Rachekrieges', dann
1675 mit dem Einbruch der französischen Heere unter Turenne aus dem
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