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Faszinosum, Filou und Forschungsobjekt: Das erstaunliche Lehen des Hellsehers Ludwig Kahn 435
Am 31. Juli 1908 beschäftigte sich im Auftrag der Staatsanwaltschaft
zuerst Medizinalrat Dr. Neumann mit dem Hellseher aus Offenburg. Dessen
erste Sitzungen mit Kahn waren freilich noch relativ unbeholfene Versuche
einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen
Phänomenen.18 Kahn demonstrierte dem Arzt, wie er ungemein
schnell und verblüffend genau Worte auf vielfach gefalteten Zetteln lesen
konnte: „Er sieht wie eine Realität die geschriebenen Worte. Dass hier ein
Betrug ausgeschlossen ist, scheint mir zweifellos. Meine mit Tintenschrift
geschriebenen Worte wären auch bei offenen Blättchen u. gründlichem Lesen
unter keinen Umständen flink zu entziffern gewesen. [...] Ich gestehe,
dass ich den Eindruck hatte, dass hier eine sehr seltene Kunst vorliege, in
einer ungewöhnlichen Weise Gesichtseindrücke zu empfangen u. richtig zu
deuten." Weniger überzeugt war Neumann hingegen von Kahns Angebot,
ihm unbekannte Sachverhalte aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
zu erläutern. „Diese Art von Gedankenlesen scheint mir Betrügereien nicht
auszuschließen, obwohl manches an der Art Kahns auffällig ist", so das
Resümee des Arztes.19
Am 7. September 1908 verlegte man Ludwig Kahn in die Freiburger
Psychiatrische Klinik, um ihn dort über einen längeren Zeitraum hinweg
(bis zum 19. Oktober 1908) zu untersuchen und zu beobachten. Klinikdirektor
Alfred Hoche leitete persönlich die Untersuchungen.20 Er befragte
dazu die beiden noch in Deutschland lebenden Schwestern Minna und Emma
über die Vor- und Familiengeschichte Kahns und brachte von diesen in
Erfahrung, dass Kahn in jungen Jahren die oben geschilderte besondere
mathematische Begabung gezeigt habe, bei ihm aber auch des Öfteren
„wohlausgeprägte Zustände von Nachtwandeln" sowie „Anfälle im wachen
Zustand" und „Ohnmächtigwerden beim geringsten Anlass" festgestellt
wurden. Auch Kahn selbst berichtete Hoche von seinen früheren
Schwindelanfällen und einer lang anhaltenden Phase des Bettnässens. Die
Quellen lassen keinen Schluss zu, inwiefern diese Aussagen aus dem Familienkreis
sowie Kahns eigene Informationen zu seinen Verhaltensauffälligkeiten
der Wahrheit entsprechen, oder ob sie als bewusste Verteidigungsstrategien
instrumentalisiert wurden.21 Dies gilt auch für die Angaben
Kahns, er hätte bei sich wiederholt Elemente von Dissoziation festgestellt
und „einmal [...] mehr als 24 Stunden ununterbrochen in einem Park
geschlafen und ebenso einmal zwei Tage und zwei Nächte hintereinander
in einem Hotel." Kahn beteuerte diesbezüglich, seine Straftat in Baden-Baden
ebenfalls „in einem abnormen Zustande" begangen zu haben „und erst
in Karlsruhe zum Bewusstsein gekommen" zu sein.22
Alfred Hoche zumindest genügten diese Angaben nicht, um eine verminderte
geistige Zurechnungsfähigkeit bei Kahn zu diagnostizieren. Vielmehr
würden bei Kahn „alle Zeichen einer organischen Erkrankung des
Zentralnervensystems" fehlen. „Von einer krankhaften Störung der Geis-
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