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Uwe Schellinger
fängnisaufenthalt sehr für dessen Fall interessiert, der ihm von „durchaus
glaubwürdigen Personen" wie etwa seinem Kollegen, dem Gefängnisarzt
Dr. Ribstein, mitgeteilt worden war. Kahn meldete sich nun aus eigener Initiative
bei Schottelius und erhoffte sich durch sein Zeugnis eine juristische
Rehabilitierung, denn „er sei kein Betrüger, er habe in den ihm zur Last gelegten
Fällen nur Unglück gehabt." Speziell zu Schottelius sei er gekommen
, weil er gehört habe, dass dieser sich „auch für ihn als Mensch interessiere
." Schottelius willigte mit großem Interesse ein, sich Kahns Künste
vorführen zu lassen. Am 26. September 1912 kam es daraufhin zum ersten
Experiment in der Wohnung von Schottelius. Kahn las die Texte dreier von
Schottelius beschriebener und mehrfach gefalteter Zettel, die er - folgt
man Schottelius Aufzeichnungen - in keinem Fall berührt hatte. Am 30.
September 1912 folgte eine zweite Sitzung, am 3. Oktober 1912 eine abschließende
dritte, die Kahn beide ebenfalls erfolgreich absolvierte. Kahn
gab Schottelius dabei zu verstehen, er sei „selbst interessiert zu versuchen,
ob man mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden seine merkwürdige
Eigenschaft erklären könne." Von Schottelius nach den Hintergründen
seiner Fähigkeit befragt, erklärte Kahn, er sehe die Schriften genauso wie
sie geschrieben seien, es ginge also nicht um den Text, sondern um dessen
sichtbare Schriftform. Schottelius berichtete: „Er sprach dabei auch immer
von einem ,Kreis' und sagte: ,Ich sehe alles in dem Kreis'! - Er meint offenbar
eine kreisförmige dunkle Fläche, deren Abgrenzung gegen eine
graue Umgebung nicht scharf ist. In dieser kreisförmigen Fläche sieht er
die Schriftzüge der Zettel heller als den dunklen Untergrund des Kreises,
so hell, daß er die Schriftzeichen, Zahlen usw. gut lesen kann." Die Aufgaben
könnte er gerade dann problemlos lösen, wenn es ihm psychisch und
körperlich gut gehe und er mit Personen arbeite, die ihm sympathisch
seien. Misstrauisch wurde Schottelius jedoch, als Kahn ihm das bekannte
Angebot machte: Nun, nachdem er doch unzweifelhaft seine hellseherischen
Fähigkeiten bewiesen habe, könne er ihm durch seine „prophetische
Gabe" auch die Zukunft vorhersagen.
Schottelius besorgte sich nach den Experimenten die Akten des Karlsruher
Gerichtsprozesses und studierte die dort gesammelten Gutachten von
Hoche, Haymann und Neumann. Zudem bekam er Berichte von denjenigen
Personen zugesandt, die Kahn während der Gefängnishaft mehrmals
geprüft hatten: Gefängnispfarrer Merta, Gerichtsassessor Engler, Oberlehrer
Behringer und Reallehrer Eisele. Bei allen diesen Versuchen hatte Kahn
beeindruckende Ergebnisse erzielt. Schottelius kam aufgrund der Berichte
seiner Informanten und seiner eigenen Beobachtungen zu folgenden
Schlüssen: Kahn könne sicherlich nicht prophetisch in die Zukunft blicken,
jedoch: „Die Eigenschaft des ,Hellsehens' steht jedenfalls objektiv fest."
Grund genug für ihn, sein Zusammentreffen mit Ludwig Kahn im Dezember
1913, über ein Jahr nach den eigentlichen Experimenten, sowohl in
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