http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2002/0584
584
Gerhard Finkbeiner
wünsche, dass du sie dir anschaust. Ich werde gehen, antwortete George.
Er ging nicht als Arzt, sondern als ein alter Freund. Als er zurückkam,
fragte der Schwager, was er denke. Doktor George schüttelte seinen Kopf:
Sie hat keine Tuberkulose. Bist du sicher? Ja! Doch da ist eine Entzündung
im linken Lungenflügel. Wird diese Entzündung nicht behandelt,
könnte das Mädchen daran sterben.
Der Schwager konnte diese Nachricht nicht für sich behalten. Vielleicht
war dies gut so! Er erzählte jemandem, dass George gesagt habe, dass Alice
keine Tuberkulose habe. Eine indiskrete Bemerkung, da George nicht der
Arzt des Mädchens war. Die Worte kamen dem Vater des kranken Mädchens
zu Ohren, ebenso dem Hausarzt. Die Behauptung verlangte nach einer
exakten Diagnose. Doktor George stellte sie, erklärte, was er dachte,
und was zu unternehmen sei. In kürzester Zeit war das Mädchen auf dem
Weg völliger Genesung.
Diese Nachricht verbreitete sich in der ganzen Gemeinde und der weiteren
Umgebung. Doktor George konnte noch heilen, wenn dies andere nicht
mehr vermochten! Viele Patienten kamen zu ihm nach Ingraham, obwohl
Doktor George noch keine Praxis hatte. Schließlich drängte man ihn zu
bleiben. Notgedrungen begann er in seinem kleinen Heimatort zu praktizieren
. Andere Aufsehen erregende Fälle ereigneten sich.
Fünf Meilen entfernt war die kleine Stadt Wakefield. Dort war die Tochter
des ortsansässigen Arztes an Diphterie erkrankt. Vor Entdeckung des
Antidoxins war es eine schreckliche, zum Tode führende Krankheit. Doch
in St. Louis hatte Dr. George gesehen, wie sein Lehrer die Intubation angewandt
hatte, welche die Patienten vor dem Erstickungstod bewahrte. Dr.
George befand sich im Besitz der notwendigen Schläuche. Da der betreffende
Arzt nicht imstande war, seine Tochter zu retten, bat er Dr. George,
diese Schläuche zu bringen.
Begleitet von einem jungen Freund, dem Medizin-Studenten A. L. Ziliak,
fuhr Dr. George die fünf Meilen, so schnell, wie es die schlechte Straße erlaubte
, nach Wakefield. Doch als sie ankamen, trafen sie den Vater tränenüberströmt
an. „Sie sind zu spät!", sagte er gebrochen. „Sie ist tot!" Sie
gingen zusammen in das Zimmer, wo das Mädchen lag. Die Augen des jungen
Ziliak waren scharf. Er entdeckte eine kleine Bewegung. „Sieh", sagte
er. „Das Mädchen hat fast nicht wahrnehmbar nach Luft geschnappt. " Dr.
George nahm ihr Handgelenk. Ein sehr, sehr schwacher Puls. Geschwind
schob er einen der Schläuche in ihren Rachen, so wie er es gesehen hatte.
Fünf Minuten später bekam das Mädchen wieder leicht Farbe. Sie begann
normal zu atmen. Bald wurde sie wieder ganz gesund.
Dr. George erzielte diese Heilungen in dem kleinen Landort in den Bergen
, wo er geboren war. Sein Ruhm verbreitete sich. Mehr und mehr Patienten
verlangten nach ihm, reisten von weit her an, und zwar in solch
großer Zahl, dass er sie nicht mehr allein behandeln konnte.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2002/0584