http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2003/0270
270
Manfred Zittel
Die Rede ist hier von ihrem gemeinsamen Studienfreund Johann Baptist
Gall, geb. 1782, der an der Schwindsucht leidet und bereits todkrank ist.
Lorenz Okens innige und verzweifelte Anteilnahme am Schicksal des Jüngeren
bricht in mehreren Briefen durch. Am 18. Mai 1804 schreibt er seinem
Freund aus Freiburg: Lieber! - Gall ist hier! O Gott! Krank wie vorher
! Sein Atem ist sehr eng. Husten - abgestumpft gegen alles in der Welt.
Sprache schwach - doch liegt er nicht im Bette. Er doktert immer an sich
herum - bald Opium, bald Nafta und Fosfor-Salep. Doch gebe ich ihn noch
nicht verloren. Wir wollen sehen, was herauszubringen ist. [Es folgen einige
Rezepturen Okens, der ja Medizin studiert, ehe er den kurzen Brief beschließt
:] Genieße das Leben - es kommt nie wieder - wenn Du nicht etwa
die Auferstehung hierher rechnest. Doch leb wohl - Dein Okenfuß. - Gall
muss wohl noch im Jahr 1804 gestorben sein. Oken widmete ihm sein erstes
größeres Buch, Die Zeugung (1805 erschienen).
Ein jüngerer Freund war gestorben, und es ging Oken sehr nahe. Doch
findet sich bei ihm kein Anklang von sentimentalem Gefühlsüberschwang
oder von Freundschaftskult, wie er in jener Zeit der frühen Romantik bei
jungen Männern häufig anzutreffen war. Oken war zu hart mit den Realitäten
des Lebens konfrontiert, mittellos wie er war, unablässig um den Aufstieg
als Wissenschaftler kämpfend, um in traurigen Gefühlen schwelgen
zu können oder zu wollen. Seine Trauer ist von existenzieller Verzweiflung
durchsetzt, wie der Beginn seines Briefes aus Würzburg vom 23. Februar
1805 zeigt: Lieber! Es ist schrecklich, wenn ich mich und meine Freunde
ansehe. Geheimnisvoll hat die Hölle sich unserer bemächtigt - ich weiß
nicht, wie ich es verschuldete, daß mir das Unglück nicht nach-, sondern
voreilt! Du bist unglücklich, beide Gallen5 tot, meine übrigen Kameraden
nicht versorgt, meine Familie arm, und ich in der Unstäte!
Was in Okens Briefen immer wieder auffällt, ist die starke Bindung an
seine Freunde und Kameraden. Oken hatte mit I2lh Jahren die Mutter, mit
18 den Vater verloren; seinem Heimatdorf war er geistig entwachsen
(wenn er die verwandtschaftlichen Beziehungen auch bis ins Alter pflegte).
Für sein Bedürfnis nach Nähe und gegenseitigem Verstehen suchte er in
der Beziehung zu Freunden Genüge zu finden. Selbstlosigkeit untereinander
war für ihn dabei selbstverständlich. Als Matthias Keller im Winter
1802/03 erkrankte (er war nach abgeschlossenem Studium zunächst in seine
Heimat am Bodensee zurückgekehrt und wollte dort eine Praxis aufbauen
) und seine Freiburger Freunde davon nicht unterrichtet hatte, wurde er
von Oken dafür herb getadelt. Der Brief, den Oken im Namen der Freiburger
Freunde formulierte, ist ein beredtes Zeugnis für sein Verständnis von
Freundschaft: Du krank und uns kein Wort davon! Achtest Du Deine
Freunde so, oder glaubst Du von uns Ursache zu haben zu denken, als wäre
uns Dein Wohl gleichgültig? ... Du weißt, daß es keinem von uns unbedeutend
ist, was einen unserer Freunde betrifft ...Es war schon beschlos-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2003/0270