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„Die Zeit ist der beste Richter". Von Sibirien in die Ottenau
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Ich bringe dieses traurige Ende in Verbindung mit den Bemühungen der
Wolgadeutschen um eine Wiederherstellung der deutschen Autonomen Republik
an der Wolga und den organisierten Widerstand der dort wohnenden
Bevölkerung, die auf die Straße ging mit Plakaten „Lieber Aids als eine
deutsche Republik an der Wolga". Das waren Russen, Ukrainer und andere
, die 1941 dort hinkamen in die leer stehenden Häuser der verbannten
Wolgadeutschen, und die heute dort in Armut leben in den ruinierten und
zum Teil noch stehenden Häusern. Der Vater von Erna zog weg, aber diesmal
verkaufte er sein Haus, bevor ihm vielleicht wieder was passiert wäre.
Erna kehrte aus ihrem Urlaub in Deutschland zurück nach Omsk und
starb kurz danach. Ob die Eltern noch am Leben sind, weiß ich nicht, sie
wären ja schon weit über achtzig. Ich frage mich, wo war die Heimat dieser
Familie? Dort, wo sie geboren wurden, durften sie nicht leben, wohin
man sie verbannt hatte, dort wollten sie nicht bleiben. Auch nach Aufhebung
der Kommandantur blieben sie heimatlos, weil sie nicht zurück in ihre
Geburtsorte durften. Der relativ junge katholische Bischof aus Novosi-
birsk, dessen Diözese sich über ganz Sibirien erstreckt, sagte bei einem
Kongress am 29. August 2003 in Freilassing: Wenn ich in den 90er-Jahren
die katholischen Gemeinden im Gebiet Krasnojarsk besuchte - und damals
waren es überwiegend Russlanddeutsche -, erzählten mir die alten Leute
ihre traurige Geschichte. Am Ende fügten sie hinzu: „Es durften später alle
heimfahren, es kamen ganze Züge und nahmen die deportierten Litauer
nach Hause, nur uns wollte niemand zurück in unsere Heimat bringen."
Wie fühlt man sich, wenn man in der Haut eines Russlanddeutschen
steckt? Wenn man als einzelne Person und als ganzes Volk auf der Suche
nach HEIMAT ist? Wie ist es, wenn die menschliche Natur ein Bedürfnis
nach Heimat hat, dieses aber nicht stillen kann? Jahrzehntelang warf das
Schicksal die Russlanddeutschen hin und her: Heimat an der Wolga, im
Kaukasus oder in der Ukraine; Deportation nach Kasachstan und Sibirien
(für andere noch mit Zwischenstation in Polen (Warthegau) oder Deutschland
). Danach ab 1956 das Zusammenfinden in manchen Ortschaften wie
Karaganda; ab 1972 die Rückkehr einzelner Familien in das Wolgagebiet.
Dann nach Moldawien oder in das Baltikum, für manche als vorübergehende
Aufenthaltsorte, weil es von dort aus leichter war, die große Reise in die
historische Heimat Deutschland antreten zu können. Denkt nicht, dass die
Ausreise so leicht war. Es passierte oft, besonders in den 70er- und 80er-
Jahren, dass unsere Leute auf dem Flughafen in Moskau unwillkürlich ins
Laufen kamen, so drängte es sie weg von dem Land, das sie verfolgt, gequält
und fast umgebracht hatte, hin zu dem Land, aus dem ihre Vorfahren
stammten. Es gibt eine ganze Reihe von bekannten Faktoren, die unsere
Leute zur Auswanderung zwingen: die nicht abbrechen wollende Verfolgung
, die ökonomische Lage, die Zusammenführung der Familien. Inzwischen
sind bereits zwei Millionen Deutsche aus Russland ausgewandert
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