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Karl Maier
die von der Bevölkerung kaum bemerkt wurden, gibt es keine Unterlagen
außer dem lapidaren Eintrag 303 im Einwohnermeldebuch „22.10.1940
ausgewiesen". Bereits auf der Fahrt von Offenburg nach Gurs bewies Dr.
Wolff seine Eigenschaft, die man später im Lager immer wieder rühmen
wird, auch unter den widrigsten Umständen seine Pflicht zu tun und den
Mitmenschen zu helfen. Lili Reckendorf, eine Jüdin aus Freiburg, die den
Holocaust überlebte, berichtet über die traurige Reise und die ersten Eindrücke
im Camp.44 Voller Respekt schildert sie, wie der „saubere, wendige
Landarzt" aus Appenweier ohne Auftrag und ohne Organisation den Kranken
- es fuhren auch viele alte Menschen im Zug - in ihren Schmerzen
half. Der eingeplante Sanitätswagen fehlte. „Man wußte bald, wo unser
guter Dr. Wolf seinen Wagen hatte, schickte auf einer Haltestation einen
Boten hin, und auf der nächsten Station kletterte er dann in den gewünschten
Wagen." Er brachte in einem rosa Säckchen Spritze, Ampullen etc. mit
und konnte oft helfen. „Ich sehe noch Dr. Wolf (damals etwa 65 Jahre alt)
am Wagenfenster stehen, und die von Reisen her bekannte südfranzösische
Landschaft betrachten. So stand er, stieg aus, stieg ein, Tag und Nacht. "45
Im Lager wurde Dr. Wolff Chefarzt der Infirmerie (Krankenstation) des
116t I, das nur Frauen beherbergte, und wertvoller Berater der Ilotchefin
Frau Scheidt46. Zuerst musste er im Männerilöt schlafen, bis er später ein
Zimmerchen in der Infirmerie eingebaut bekam mit Sprechraum und Ambulanz
. „Seine Aufmerksamkeit, seine Diagnostik, seine Aufopferung, wie
er im Anfang noch mit dem Rucksack über Land ging, um in der Apotheke
einzukaufen, das war mustergültig, er war eben der praktische, erfahrene,
bewegliche, anpassungsfähige Landarzt. "4?
Den Alltag, den Frau Reckendorf so lobend beurteilt, stellt Dr. Wolff
seiner Tochter folgendermaßen dar: „ 7 Uhr, früher als andere, Tee (weil
der Kaffee erst später fertig wird), und dann einige schriftliche Arbeiten
(Rapporte, Recepte etc.); 8-9 Visite, 9-11 Sprechstunde, während derer ein
Glas Milch. 11-12 1/2 Besuche bei Kranken. Nach dem Mittagessen 1
1/2—3 Zeitung, Schweizer mediz- Wochenschrift, selten ein paar Minuten
Schlaf im Liegestuhl. Ab 3 Uhr Untersuchungen, Reihenuntersuchungen,
Lagerhygiene ... eine Sprechstunde für Männer u. soziale Hilfe. 5 1/2-6
1/2 Abendvisite und Krankenbesuche, manchmal auch später, Nachtessen,
u. dazu gebe ich 2mal in der Woche Sanitätsunterricht, den ich nach alter
Gewohnheit ohne Lehrbuch erteile. "4S
In den drei Briefen Dr. Wolffs, die mir zur Verfügung stehen, fällt auf,
dass die furchtbaren äußeren Verhältnisse, unter denen die Menschen zu
leiden hatten und über die viele Insassen geklagt haben, keine Beachtung
finden. Im Gegenteil, Dr. Wolff hebt die Glanzpunkte seines Daseins hervor
, die Feier des Rosh Hashanas, des jüdischen Neujahrsfestes, mit Gottesdienst
im Krankensaal, mit Brezeln, Bergen von Trauben, Melonen,
Pfirsichen, Birnen und einer allerdings von außerhalb des Lagers gestifte-
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