http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2007/0050
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Wolfgang Stengele
mellager zur Verurteilung statt. Selbst Stalins 70. Geburtstag am 21. Dezember
brachte keine Amnestie für die zu Unrecht Angeklagten. Am
22. Dezember durften endlich 1200 Mann des Lagers in die Heimat fahren.
Nicht so die etwa 400 Angeklagten, unter ihnen H. Gnändinger, die allesamt
an Weihnachten 1949 ohne Unterschied ihr Urteil zu jeweils 25 Jahren
Zwangsarbeit entgegennehmen mussten.
Unter entwürdigenden Umständen, kahl geschoren und bis auf die Haut
gefilzt wurde er in eine mit 54 Mann belegte Zelle des Minsker Gefängnisses
verlegt.
Drei Wochen später ging's zurück zu Lager 6, allerdings jetzt unter
schärferen Bedingungen bewacht, und nach weiteren vier Wochen in das
zwischenzeitlich geräumte Hauptlager.
Mit der Aufnahme der Arbeit in einer Kugellagerfabrik durch die Hälfte
der ca. 1600 Mann begann wieder der alte Lagertrott. Und immer wieder
klingt aus den Aufzeichnungen von Herrn Gnändinger die Hoffnung auf
eine Rückkehr in die Heimat.
Es kam wieder anders: Im Juni 1950 erfolgte die Verladung in einen
Güterzug bei glühender Hitze unter strenger Bewachung. Die sechstägige
Fahrt ging nach Stalingrad, dem heutigen Wolgograd. Die Kriegsgefangenen
waren zum Wiederaufbau hierher gebracht worden. Die Unterkunft lag
in einem 100-Mann-Bunker, der Arbeitseinsatz auf verschiedenen Baustellen
. Trotz der schwierigen Lage versuchte man im Blick auf die vorliegenden
25 Jahre Zwangsarbeit, sich häuslich einzurichten. Die Bevölkerung
war bei den sehr spärlichen Kontakten freundlich, hilfsbereit und aufgeschlossen
und besorgte notfalls auch einmal einen verbotenen Wodka. In
einem kleinen Kammermusikkreis spielte der „Kriegsverbrecher" Gnändinger
auf einer weitgehend selbst instand gesetzten Bratsche. Es gab auch
eine Theatergruppe, und mit dem Eintreffen der Heimatpakete trat auch ein
gewisser „Wohlstand" im Lager ein.
Die Heimatpakete führten dazu, dass es den Kriegsgefangenen jetzt besser
ging als den russischen Vorarbeitern der Baustelle. Durch die Pakete
war auch der Leistungsdruck geschwunden, der zuvor zum Überleben notwendig
war.
Offiziell gab es in der Sowjetunion keine Kriegsgefangenen mehr, nur
noch Kriegsverbrecher. Die Gefangenen wurden deshalb vor den vielen
Delegationen, die Stalingrad besuchten, peinlich versteckt.
Im Juni 1953, also drei Monate nach Stalins Tod, wurde plötzlich nur
noch die Hälfte der Lagerinsassen zur Arbeit geschickt. Bei ihrer Rückkunft
war die andere Hälfte in das Nachbarlager verlegt worden, um nach
Hause geschickt zu werden. Der Aufstand des 17. Juni in Ostberlin verzögerte
dann diese Heimfahrt bis Ende September.
Die zweite Hälfte der Lagerinsassen hoffte ebenfalls auf eine sofortige
Heimkehr.
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