http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2008/0133
133
Religionsgeschichte als Familiengeschichte:
Die Chewra Kadischa in Kippenheim
Uwe Schellinger
Religiöse Gebräuche der Landjuden als Forschungsaufgabe
Am 23. April 1920 verstarb der Stoffhändler Jakob Gross aus der jüdi-
1 * *
sehen Gemeinde Altdorf im Alter von 79 Jahren. Uber seine Bestattung
berichtete viele Jahre später ein christlicher Zeitzeuge in seinen Erinnerungen
: „Bei der Beerdigung oder der ,Lafaiä'2 saß ich mit noch ein paar Kindern
auf der Treppe des Nachbarhauses [...] und schaute zu. Zur Beerdigung
kamen die Verwandten, Bekannten, Geschäftspartner und Nachbarn
des Verstorbenen. In besonderer Erinnerung sind mir die Zylinder der jüdischen
Trauergäste. [...] Nachdem die Trauergemeinde vollzählig war, wurde
der Sarg auf eine mir unvergessliche Weise die steile Treppe herunter
transportiert. Draußen hörten wir regelmäßige dumpfe Schläge. Der Sarg
wurde nämlich nur auf einer Seite gezogen. Auf der anderen Seite polterte
der Sarg mit dem Verstorbenen Stufe für Stufe die Treppe herunter. Auch
dies entsprach, wie ich später gehört habe, einem jüdischen Ritus. Es sollte
verhindert werden, einen Scheintoten lebendig zu begraben. [...] Dieses
unheimliche dumpfe Poltern hat mich damals als kleiner Bub verängstigt,
weshalb ich es bis heute nicht vergessen habe. [...] Jedenfalls erschienen
nach dem Poltern die Leichenträger mit dem einfachen Sarg - es war eine
einfache ungestrichene Holzkiste ohne Griffe - in der Haustür und trugen
ihn auf die Straße. Dort wurde der Sarg auf zwei bereitstehende ,Böckle4
gestellt. Dann trat der Rüster Rabbiner3 an den Sarg und sprach ein paar
wenige Worte. Der von zwei Pferden gezogene und aus Rust stammende
Totenwagen fuhr vor. Gelenkt wurde er von Christian Hunn, dem auch die
beiden Pferde gehörten. Nachdem man den Sarg aufgeladen hatte, startete
der Leichenzug Richtung Schmieheim. Ein Großteil der christlichen Gemeinde
und auch der Juden trat zur Seite und machte dem Leichenzug
Platz. Ein kleinerer Teil der Christen, direkte Nachbarn oder nähere Bekannte
, begleiteten den Zug bis zum Ortsausgang, dem Umrank. Ein Teil
der Juden fuhr in Pferdekutschen und ein kleinerer Teil ging zu Fuß bis
zum Judenfriedhof in Schmieheim. Vor der eigentlichen Bestattung, so hat
man mir erzählt, wurden die Verstorbenen in dem Häuschen am Friedhofseingang
noch einmal symbolisch gewaschen."4
Ob die Erinnerungen des Altdorfer Zeitzeugen in jedem Detail stimmig
sind, mag dahingestellt sein. In den Grundzügen ähnelt sein Bericht jedoch
den wenigen vorhandenen Beschreibungen des Beerdigungsrituals aus den
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2008/0133