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Zur Bedeutung von Wilhelm Hausenstein
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vom Dichter, sondern auch vom Künstler, und so zog es auch Hausenstein
immer wieder an die Orte, an denen die Künstler gelebt und an denen sie
ihre Werke hinterlassen hatten. So führte ihn Carpaccio nach Venedig,
Breugel nach Antwerpen, Rembrandt nach Amsterdam, Vermeer nach
Delft, Cezanne nach Aix-en-Provence, van Gogh nach Arles. Er wollte den
Spuren folgen, selber vor den Bildern und den Bauten stehen, sie selber sehen
; Anschauung war ihm wichtig. Und so wurde er auch zum Reiseschriftsteller
, wiederum mit vielen Beiträgen und mit Büchern über Baden,
Belgien, Holland, Südfrankreich, Griechenland und Venedig; über „Europäische
Hauptstädte", „Abendländische Wanderungen" und „Wanderungen
auf den Spuren der Zeiten".
Es ging ihm um die Kunst, aber immer auch um die Literatur. Hausenstein
hat sich als Herausgeber der Werke von Büchner und Seume verdient
gemacht, die von der offiziellen Literaturwissenschaft eher ignoriert worden
waren; als Übersetzer von Maurice Barres (nämlich, nicht zufällig, von
dessen Buch, das El Greco, den Künstler, im Kontext von Toledo beschrieb
); von Baudelaire vor allem, aber auch von Mallarme, Verlaine,
Rimbaud und manchen anderen; als Interpret von Cervantes und Stifter.
Als Hausenstein am 2. Juni 1957 von seinem Schreibtisch aufstand, lag
dort der erste Entwurf zu einem Essay, der „1857" heißen und davon handeln
sollte, dass in jenem Jahr, also vor einem Jahrhundert, drei Hauptwerke
der Literatur erschienen waren: Stifters „Nachsommer", Flauberts „Madame
Bovary" und Baudelaires „Fleurs du Mal". Es waren Werke, die ihm
am Herzen lagen; und sie bildeten eine eigenartige Konstellation, eine
Konfiguration von deutschem und französischem Leben, Denken und
Dichten. Das Thema lockte und schreckte ihn zugleich. Noch bevor er sich
erhob, schrieb er, der immer an sich Zweifelnde, in sein Tagebuch:
„Schwer, schwer. Ich hoffe, etwas zu vermögen, bin dessen aber nicht gewiß
."8 (Der Satz füllte, ganz genau, die letzte Zeile auf der letzten Seite
seines Tagebuchs, und war der letzte, den Hausenstein schrieb. Am Vormittag
des folgenden Tages ist er gestorben.)
Schließlich trat Hausenstein selber als Erzähler hervor; vor allem mit
dem ersten und leider auch einzigen Band seiner Autobiographie, der 1947,
also vor genau 60 Jahren erschien: „Lux Perpetua. Summe eines Lebens
aus dieser Zeit". Dem Dilemma jedweder Autobiographie, das darin besteht
, dass der Beschreibende mit dem Beschriebenen nicht mehr ganz
identisch ist - diesem Dilemma versuchte er dadurch zu entgehen, dass er
sich verdoppelte, oder auch teilte, nämlich in zwei Vettern, die beide angeblich
„im gleichen Augenblick, um die Mitte des Juni 1882"9 im Sternzeichen
der Zwillinge geboren sind, und von denen der eine der Beschreibende
und der andere der Beschriebene ist. Aber am Ende dieser „Geschichte
einer deutschen Jugend aus des neunzehnten Jahrhunderts Ende" gibt das
Buch sein Geheimnis selber preis; denn da geht der, um den es hier geht,
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