http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2008/0484
484
Marlon Poggio
konnte, dass die deutsche Arbeiterschaft streikte...wegen eines toten Juden
"; überdies sei der Jude verantwortlich für die „Börsenrevolte" nach
dem Krieg, welcher die vermeintlich „nationale Regierung"8 nur mit Passivität
begegnet sei.
Diese ideologischen Versatzstücke haben die NSDAP-Ortsgruppe Heidelberg
geprägt, der Wankel „wild" angehört9. „Vaterländische und soziale
Gefühle"10, von Wankel mit als Grund für seine Fühlungnahme mit den
Nationalsozialisten nach dem Ersten Weltkrieg genannt, werden überdies
biografisch verständlich: Wankeis Vater fällt 1914 als kriegsfreiwilliger
Oberleutnant; dadurch sinkt das Familieneinkommen und die Mutter zieht
mit dem zwölfjährigen zu dessen Großmutter nach Heidelberg. Es kann die
Hypothese aufgestellt werden, Wankel habe die Schuld an der sozialen Lage
seiner Familie bei den Franzosen gesehen, gegen die sein Vater im
Kampf gestorben ist, und suche nun Rache an den Gegnern im Weltkrieg,
zu denen sein Umfeld auch die Kommunisten der Dolchstoßlegende sowie
das „Finanzjudentum" zählte.11 Wie viele Erfinder möchte er seine technischen
Entwicklungen deshalb zur Stärkung der nationalen Macht sowie zur
Tilgung der „Schmach von Versailles" einsetzen12. Zudem hat die Inflation
nach 1918 („Börsenrevolte") Wankeis Familie in eine prekäre Lage - von
der bürgerlichen Situation einer Forstassessorenfamilie in die untere soziale
Schicht - gestürzt13, was seine Sehnsucht nach sozialer Nivellierung, also
Stabilität, zu verstehen gibt: Allein, Wankel findet es „fabelhaft", dass
derart verschiedene Schichten die NS-Bewegung bildeten14 - ganz wie es
der Usus in der Heidelberger Ortsgruppe zu sein scheint, wo sich „alle
Stände [...] als Träger einer neuen Weltanschauung und als Kämpfer für
eine neue Zeit"15 fühlen.
Dieser Synthese aus „nationalen und sozialistischen Sehnsüchte[n]"16
sucht der „Ruge-Kreis" um den Heidelberger Privatdozenten Dr. Arnold
Rüge gerecht zu werden, der bereits vor der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe
im März 1922 als fanatischer Antisemit und Nationalist für
deutsch-völkische Ziele aufgetreten ist und den die Heidelberger Nationalsozialisten
als den ersten Mann betrachten, „der in Heidelberg nach dem
Dolchstoß von 1918 gegen Judentum und Marxismus für völkische Ziele
energisch aufzutreten" gewagt habe17: Denn als Rüge sich im November
1919 im Anschluss an die Gründungsfeier der Universität Heidelberg einem
rhetorischen Exzess gegen die Republik hingab, ist ihm in der Folge
eines Disziplinarverfahrens noch im selben Jahr die venia legendi durch
das Ministerium des Unterrichts entzogen, kaum ein Jahr später seine Dozentenstelle
gekündigt worden. Die Stilisierung Ruges zum Märtyrer ist
freilich verklärend, denn während Goebel behauptet, die Heidelberger Nationalsozialisten
hätten sich Rüge bereits vor dessen „ersten ,deutsch-völkischen
Pressetag' [...] zur Mitarbeit zur Verfügung" gestellt18, so sieht jener
stillschweigend darüber hinweg, dass diese Nazis 1924 als „Deutsche
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2008/0484