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Martin Ruch
ermöglichen könnte. Zwar lautete der Befehl, auf jeden, der einen Fluchtversuch
machen wollte, zu schießen. Deschwanden war jedoch fest entschlossen
, so vielen wie möglich die Flucht offen zu halten, und zusammen
mit seinem gleichgesinnten Kameraden Collet gelang ihm dies unter
schwierigen Umständen und eigener Lebensgefahr: Sie schössen nicht, obwohl
sie die Flüchtenden sehen konnten. Von den Juden, die in dieser dramatischen
Nacht fliehen und überleben konnten, sind heute 25 namentlich
bekannt. Einige weitere konnten zwar entkommen, wurden dann aber
außerhalb des Lagers von der SS entdeckt und erschossen.
Am Morgen nach der Fluchtnacht, als es schon hell wurde, sah Deschwanden
SS-Leute in das Lager kommen, die drei der geflüchteten Juden bei
sich hatten. Er wurde Augenzeuge, wie ein etwa 14-jähriger Bub von einem
SS-Mann mit dem Gewehrkolben erschlagen wurde. Er stand da und konnte
nichts machen.
Noch bevor die SS Nachforschungen anstellen konnte, warum Juden
überhaupt hatten aus dem Lager fliehen können, wurde die HKP-Wache
von einem Feldwebel abgeholt und in das HKP-Hauptquartier zurückgefahren
. Das nachfolgende Chaos im Aufbruch und Rückzug des Tages
wurde dann zum rettenden Schutz vor weiteren Ermittlungen der SS.
Nach dem Krieg lebten Kontakte mit Überlebenden auf. Shoshanna
Uspitz, die mit ihrem Mann im HKP gearbeitet hatte, machte von Deschwanden
1971 mit Hilfe der deutschen Botschaft in Tel Aviv ausfindig.
Deschwanden erfuhr tief bewegt, dass sie zusammen mit ihrem Mann in
jener Nacht, als er zur Wache eingeteilt war, hatte fliehen können. 23 Briefe
und 16 Postkarten zeugen im Archiv von Deschwanden von einer dann
einsetzenden lebendigen Korrespondenz, die durch gegenseitige Besuche
in Deutschland und Israel bereichert wurde.
Shoshana Uspitz (geb. 1917) arbeitete als Sekretärin im HKP. Aus Israel
schrieb sie am 2. 7. 1971: „Lieber Herr von Deschwanden! Ich habe oft an
Sie gedacht und jedesmal Ihren Namen erwähnt, wenn ich von unserer
wunderlichen Rettung erzählte. Sie waren für uns ein leuchtender Stern in
der Dunkelheit. Ich erinnere mich noch, daß bevor Sie in Urlaub gingen,
haben Sie mir für meinen Mann eine Menge Zigaretten gegeben. Er war in
den Garagen beschäftigt, können Sie sich entsinnen? Die meisten haben
sich nicht retten können. Mir und meinem Mann, er war besonders tapfer,
ist es gelungen auszureißen und während 13 Tagen haben wir uns hungrig
und durstig in Büschen und Ruinen versteckt. Nach der Befreiung sind wir
nach Israel gegangen."
19.7.1971: „Von unserer Rettung kann ich Ihnen erzählen, daß das
Ghetto schon früher zerstört wurde. Uns, die Arbeiter vom HKP, auch die
Familien, hat Major Plagge in einem Lager außerhalb Wilnas, zwei bis drei
Wochen vor der Liquidation, unterbringen lassen. Von dort wurden wir
täglich in einem geschlossenen Wagen nach der Panzerkaserne geführt."
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