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Wolfgang M. Call
dem fällt bald ein recht erstaunliches Phänomen auf, das so eigentlich bei
keinem anderen historischen Thema zu beobachten ist: In bemerkenswertem
Umfang stimmten nämlich die Zeitgenossen, die heute befragten Zeitzeugen
und die Geschichtswissenschaft in der negativen Beurteilung der
Entnazifizierung überein."4 Klaus-Dietmar Henke resümiert, ähnlich wie
der Zeitzeuge Dirks, dass die Bestimmungen zur Befreiung von Nationalsozialismus
und Militarismus kein Entnazifizierungs-, sondern ein Renazi-
fizierungsgesetz gewesen seien, die politische Säuberung nach amerikanischer
Direktive insofern bereits im Ansatz misslungen.5
Inzwischen sind nach Öffnung der Archive neue Studien zur lokalen
und regionalen Entnazifizierung sowie der Entnazifizierung einzelner Beruf
sgruppen und Institutionen erschienen. Insbesondere die Untersuchung
von Beamtenkarrieren vom Kaiserreich über Republik, NS-Staat und
Bundesrepublik zeigten, dass in Verwaltungen die Entnazifizierung „eine
wenn überhaupt nur temporäre Unterbrechung (...) gradlinig verlaufener
Karrieren" darstellte.6
Die „Bilanz des Scheiterns" ist eher einem differenzierten Urteil gewichen
. Es besagt, dass die Entnazifizierung trotz teilweise erheblicher Mängel
dazu beitrug, dass die Nationalsozialisten nach 1945 zu gesellschaftlichen
und politischen Randerscheinungen wurden. Dem Karlsruher Stadthistoriker
Manfred Koch ist zuzustimmen, dass dadurch für den einzelnen
Betroffenen eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nötig wurde,
dass über die tiefe Verstrickung mit dem verbrecherischen NS-Staat wenigstens
für eine kurze Frist nicht stillschweigend zur Tagesordnung übergegangen
werden konnte und, vielen zeitweise entlassenen oder internierten
Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten ein Denkzettel verpasst wurde.7
Die „Entnazifizierung" der Deutschen begann, wie Manfred Koch
schreibt, bereits in den letzten Kriegsmonaten mit „der Erschöpfung der
Leidensfähigkeit und Leistungskraft der Bevölkerung sowie mit der Flucht
nationalsozialistischer Funktionsträger vor den anrückenden Truppen der
Alliierten. Doch die Abkehr der Deutschen vom Nationalsozialismus bei
Kriegsende brachte keinen allgemeinen anti-nationalsozialistischen Volkszorn
hervor. „Der Ausbruch einer spontanen Wut des deutschen Volkes gegen
all diejenigen, die als prominente Vertreter des Naziregimes bekannt
waren", wäre die „einzig denkbare Alternative zum Entnazifizierungsprogramm
" der Alliierten gewesen. „Doch die Revolution blieb aus", wie
Hannah Arendt 1950 bitter kommentierte.8
Der folgende Beitrag zeigt am Beispiel der Stadtverwaltung Offenburg,
wie schmal der Grad zwischen Erfolg und Scheitern der Entnazifizierungspolitik
gewesen ist.
Nach der Besetzung Südwestdeutschlands Ende April 1945 stützten
sich die Franzosen auf die verbliebene deutsche Verwaltung. In 70% der
Gemeinden waren die Bürger- und Oberbürgermeister noch auf ihren Pos-
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