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Heiligenleben und Alltag. Offenburger Stadtgeschichte im Spiegel eines spätmittelalterlichen Beginenlebens 163
alltäglichen Lebens. Hier wuchs sie in den traditionellen Familien
- und Sippenbindungen auf, abgesichert, aber fremdbestimmt
. Das Waisenkind wurde Bauern der Umgebung in Pflege
gegeben, das heiratsfähige Mädchen einem reichen adligen Nachbarn
angedient. Ihr Entschluss, die Burg auf einem wackligen
zweirädrigen Karren hinter sich zu lassen, stieß bei der Familie
auf völliges Unverständnis: Was willst du dort tun? Willst du
wirklich unter fremde Leute ziehen, die nicht wissen, wer du bist?
Gertrud entschied sich, aus ihrem bisherigen Lebensmuster
auszubrechen und einen eigenen Weg zu suchen. Deshalb zog sie
in die Stadt, die schon zum Synonym für Emanzipation geworden
war. Hier, innerhalb der städtischen Mauern, hatte sich ein
anderes Sozialgefüge entwickelt, das von dem Gedanken der Autonomie
und Selbstbestimmung geprägt war. Das wollte Gertrud
wagen; sie fand Unterkunft bei einer „armen Schwester" und
lebte fortan als Begine, d. h. nicht hinter Klostermauern, religiös,
ohne einem Orden anzugehören.
Als äußeres Zeichen ihrer neuen Lebensform trug sie einen
schwarzen Mantel und darunter einen Rock aus einfachstem Leinen
. Durch diese übliche Beginenkleidung hob sie sich von den
andern Frauen der Stadt ab, die more saecularium (weltlich) gekleidet
waren. Ihre Kinder blieben auf der Burg, um nicht ihr Erbteil
zu verlieren. Für sie selbst stritten ihre Freunde um das Vermögen
, das ihr zustand. Ihr neuer Lebensmittelpunkt aber wurde das
Haus der armen Schwester in Offenburg.
Sie hatte sich hier noch nicht lange eingerichtet, da klopfte
eine junge Frau an ihre Türe und bat dringend um Einlass. Sie
hieß Heilke von Staufenberg. Aus dieser Burg über Durbach war
auch sie vor ihren Brüdern geflohen, die sie nach dem Tode der
Eltern in die weit geben (also verheiraten^) wollten ... Do mähte sich
die jungfrowe ufund nam knecht und jungfrowen zuo ir und ging us
an dem obende, do es vinster wart, und ging durch einen grozzen walt,
da su vorhte, ginge sü die rehten wege, dz man irgewar wurde. Do der
tag ufging, do wz sü vor der stat Offenburg. Sü kam zuo dirre frowen,
die empfing sü froelich, wann sü geistlich wolte werden.20
Ohne große Schwierigkeiten konnten sich die Offenburger Zu-
hörerinnen den nächtlichen Fluchtweg der Gruppe aus der Burg
in die Stadt vorstellen: Heilke vermied, aus Vorsicht, den kürzesten
Weg durch das Durbach-Tal, sondern zog über Durbach-Ge-
birg, um wohl über die Brandeck ins Riedle herunter zu ziehen
und an Weingarten vorbei zum Schwabhauser Stadttor zu gelangen
. An diesem frühen Morgen begann eine langjährige Gemeinschaft
der beiden Frauen, die sich unabhängig von einander
gegen ihr bisheriges Leben entschieden hatten und einen neuen
Anfang machten: Sü worent byeinanderXXX jor und XXVIII wuchen
und hielten hus miteinander.21 Wie wir aus der Grabinschrift wis-
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