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322 Heinz G. Huber
Erhalten gebliebene, etwas unscharfe Fotos zeigen den gespenstischen
Umzug: Bucklige, schwarz gekleidete und maskierte Gestalten
mit großen Nasen, wie sie das antisemitische Hetzblatt „Der
Stürmer" damals darstellte, ziehen durch die Dorfstraße. Eine
Kuh mit der Aufschrift „Nach Jerusalem" ist vor einen Wagen
gespannt, auf dem Koffer und Umzugsgut geladen sind. Wenige
Monate vor der Reichspogromnacht am 9./10. 1938 und zweieinhalb
Jahre vor der Deportation nach Gurs am 22. Oktober 1940
wurden in Nußbach Juden auf diese beschämende Art verhöhnt
und verspottet.
In Nußbach lebten keine Juden, bis Mitte der 1930er-Jahre
hatten Dorfbewohner mit jüdischen Vieh- und Stoffhändlern
und jüdischen Ärzten Kontakt.48 Fast in jedes Haus kam der Appenweierer
Arzt Dr. Leo Wolff. Er war nicht nur wegen seiner
medizinischen Kenntnisse geschätzt, sondern auch deswegen,
weil er armen Familien kostenlos medizinische Hilfe leistete.49
1934 war sogar ein Nußbacher in Streichers „Stürmer" angeprangert
worden, weil er trotz Warnungen mit einem jüdischen Viehhändler
Geschäftsbeziehungen unterhielt.50
Unter dem Eindruck der Nußbacher Fastnacht protestierte
sogar der ledige Nußbacher Landwirt Wilhelm Kasper in einem
Brief an Streicher gegen die Judenhetze des „Stürmer", weil er zu
Recht in dessen Organ den geistigen Urheber antisemitischer Aktionen
vermutete. Er wandte sich gegen Parolen des „Stürmer" wie
„Die Juden sind schlimmer als die Teufel", „Sie sind Verderber der
Menschheit" und „Alles Böse kommt von den Juden" und prangerte
an, dass jüdischen Mitbürgern die Menschenwürde genommen
und staatsbürgerliche Rechte vorenthalten wurden. Nach seiner
Verhaftung durch die Gestapo bekannte Kasper:
„Ich nehme die Juden in der Eigenschaft als deutsche Staatsbürger
gegen ungesetzliche und unmoralische Handlungen oder Worte in
Schutz. Vom rein menschlichen Standpunkt aus, soweit ein rechtlich
denkender Mensch verpflichtet ist, seinen Nebenmenschen zu
achten und zu ehren, muss ich auch die Juden, weil sie Menschen
sind, in Schutz nehmen. Vom religiösen Standpunkt, weil jeder
Mensch ein Geschöpf Gottes ist und nach seinem Bild und Gleichnis
erschaffen ist, muss ich auch den Juden als Geschöpf Gottes
ehren und achten."51
Auch von anderen Einwohnern wurde diese Art von Fastnachtsspiel
missbilligt; offensichtlich versuchten örtliche Anhänger des
Nationalsozialismus auf diese Art und Weise traditionelles
Brauchtum für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Unter den Initiatoren
und „Darstellern" befand sich der Sohn des örtlichen
Hauptlehrers, der später der Totenkopf-SS angehörte. Nach glaubwürdigen
Zeitzeugenaussagen52 soll er von einem alliierten Ge-
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