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Neue Literatur 435
eine Wohlfahrtseinrichtung, in der „lungenkranke
Jüdinnen Genesung finden konnten" (S. 9), und
zwar kostenlos.
Was war dort in der sog. Nazi-Zeit passiert? Erstaunt
über das Interesse in Amerika an Nordrach
hatte ich mir vorgenommen, mich näher zu erkundigen
...
Jetzt liegt es vor mir, wonach ich damals gefragt
wurde, die soeben erschienene Dokumentation
„Deportiert aus Nordrach" von Uwe Schellinger,
Rolf Oswald und Egbert Hoferer. Ein kleines, aber
umso gewichtigeres Buch mit den großartig recherchierten
Dokumenten über das „Schicksal der letzten
jüdischen Patientinnen und Angestellten des
Rothschild-Sanatoriums" - 34 Menschen, von
denen einer sich seit 1917 als Fotograf in Nordrach
angesiedelt hatte, einer zu Besuch seines Bruders
Dr. Nehemias Wehl, der als Chefarzt 20 Jahre das
Sanatorium leitete, im Kurort weilte, alle übrigen
entweder zur Behandlung ihrer Krankheit und zur
Erholung in dem Rothschild-Sanatorium für lungenkranke
Frauen sich aufhielten oder aber dort
angestellt waren - jüdische Bürger, die sich möglicherweise
in dem abgelegenen Schwarzwalddorf
vor der immer schonungsloser werdenden Verfolgung
durch die Nazis sicher(er) wähnten, und die
dann doch alle im Zeitraum vom November 1938
und endgültig die meisten am 29. September 1942
^deportiert' wurden.
Diesen Menschen ein Gesicht zu geben, war das
Anliegen der drei Autoren. Doch die Quellenlage
erwies sich als äußerst schwierig. Sie haben ihr Vorhaben
trotzdem nicht aufgegeben und in mühevoller
Kleinarbeit Daten aus verschiedensten Archiven
und Ländern zusammengetragen: diesem Einsatz
verdanken wir den einleitenden sorgfältig recherchierten
Bericht Uwe Schellingers „Deportiert aus
Nordrach (1939-1942)" (S 8-29) und die anschließende
„Spurensuche" der drei Herausgeber mit den
„Kurzbiographien der Opfer" (S. 30-73) in der nunmehr
vorliegenden Broschüre.
Wie die sogenannte Deportation' aussah und
was sie bedeutete, stellt unheimlich hautnah Rolf
Oswald im Anschluss an die Biographien der Opfer
in seinem Artikel über eine Veranstaltung mit Zeitzeugen
„Juden in Nordrach - eine Erinnerungsarbeit
" dar (S. 82-85). Dort schildert er u.a. die Erinnerung
des damals 12jährigen Wilhelm Oberle: An
einem späten Vormittag fuhr ein Last[!]-Wagen
„mit drei oder vier SS-Leuten" vor, und die Frauen
mussten auf die darauf montierten Sitzbänke klettern
. Bereits Wochen vorher habe es im Dorf geheißen
: „Die Juden kommen weg." Und: „Es war klar,
dass [...] sie nicht mehr zurückkommen würden."
(S. 85)
„Man" wusste also, was geschah, die Auflösung
einer der letzten Wohlfahrtseinrichtungen für jüdische
Menschen stand bevor (vgl. auch S. 20f.). Bereits
im April 1933 hatte Schickele prophetisch geschrieben
: ... „das teuflische Spiel kann nicht gut
anders enden als mit der Ausrottung der Juden oder
dem Zusammenbruch des Hakenkreuzes."
Es wäre sehr wünschenswert, wenn mutige Zeitzeugen
Gelegenheit bekämen, in einem nachfolgenden
Buch ihre Eindrücke aus der Zeit in eigenen
Worten zu schildern (es schlummern doch sicherlich
noch Tagebücher oder Kalender in Erinnerungskisten
, die wertvolle Aufschlüsse liefern können
). Denn es geht hier ja nicht um eine Anklage,
wenn eine hervorragend erarbeitete Recherche der
eigenen Region vor Augen führt, dass Geschichte
nicht nur „von denen da oben" gemacht wurde,
sondern dass sie „direkt vor unserer Haustür, am
Nachbarn, am kranken Gast unseres Heimatortes,
in dem uns gut bekannten Gebäude mitten im eigenen
Dorf geschehen konnte". Wenn Geschichte
nichts anderes ist als das später festgeschriebene
Miteinander von Menschen, dann bietet sie uns die
Chance, unser Tun und Lassen aufmerksamer zu
machen für die Gestaltung unserer Gegenwart und
Zukunft - damit sie eine weniger unheilvolle „Geschichte
" werden möge.
Wir reden viel von Zivilcourage. Zivilcourage ist
auch, einzugestehen, dass und weshalb man als
jüngerer Mensch mitgemacht hat - sich selbst zur
Entlastung („Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung
"), und öffentlich für alle, die gegenwärtig
Geschichte machen. Gerade diese Erfahrungen
könnten junge Menschen sensibilisieren für schleichende
Beeinflussung, für Gruppendruck, dem
man sich nicht zu entziehen traut. Lernen, NEIN zu
sagen, nicht nur bei Alkohol- und Drogen-Miss-
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