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„Granatkommotionsneurosen":
Die jüdische Ärztin Dr. Hertha Wiegand
behandelt traumatisierte Soldaten
Martin Ruch
Das Heulen der Sirenen, das Dröhnen der Motoren und Panzer,
die Explosionen, der Gestank - im Haus der Geschichte Baden-
Württemberg in Stuttgart zeigte ab April 2014 eine Ausstellung,
wie der Krieg sich anhörte und anfühlte: wie eine „Fastnacht
der Hölle". Insgesamt 613047 Soldaten mussten in deren Verlauf
wegen „Nervenkrankheiten" behandelt werden. „Posttraumatische
Belastungsstörung" nennt man dieses Krankheitsbild
heute. Damals sagte man „Granatkommotionsneurosen" dazu,
wenn der Überlebende einer in unmittelbarer Nähe explodierenden
Granate aufgrund einer neurologisch-seelischen Folgeerkrankung
behandelt werden musste.
In den Aufzeichnungen des Johann Baumann aus Altschweier
bei Bühl ist die Wirkung einer solchen Granatendetonation
beschrieben: „Als wir mit einer Meldung vom Posten der
Kompagnie zurückkehrten, schlug eine anscheinend schwere
Granate etwa 2 m neben uns an den Straßenrand ein. Der Luftdruck
warf uns über 1 m in die Höhe. Nach dem wusste man
nichts mehr, unfähig zum Denken, Reden und Gehen lagen
wir wie gelähmt am Boden. Jeder dachte, bin ich verwundet,
lebt mein Kamerad noch. Nach kurzer Zeit konnte ich mich
wieder aufrichten, ich rief dem andern Kameraden zu, welcher
etwa 2 m hinter mir lag. Auch er war unverwundet. Wir bewegten
uns erst langsam, dann nichts als ab in den schützenden
Betonunterstand."1
Glück hatte nicht nur, wer den Granateneinschlag überlebte
. Glück hatte auch, wer danach in einer ruhigen Umgebung
Besserung oder gar Heilung von den Folgen seiner Erschütterung
fand. Manche Soldaten konnten in der rheinischen
Heilanstalt Grafenberg aufgenommen werden, wo wiederum
einige auf eine verständnisvolle Assistenzärztin trafen,
die aus der Ortenau stammte: Dr. Hertha Wiegand, geborene
Lion, aus Ettenheim. Sie schrieb ihre medizinischen Erfahrungen
mit diesen Patienten in ihrer Dissertation nieder, der sie
den Titel „Über Granatkommotionsneurosen" gab. Bereits 1915
erschien die Arbeit in Freiburg mit dem Hinweis „aus der Rheinischen
Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg".
Dr. Hertha Wiegand,
geh Lion, 1890-1944.
Aufnahme für die
„Kennkarte" 1939.
In: Ruch: Jüdische
Stimmen. Offenburg
1995, S. 328
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