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In Privatgesprächen interessierte ihn aber vor allem die Gegenwart.
Er wollte aus erster Hand etwas mehr über das Land erfahren, aus dem
ich kam. So wollte er z. B. wissen, ob und wie viele Arbeitsplätze mit der
Automatisierung durch die Mikroelektronik zu Beginn der 1980er Jahre
im Bankwesen auch in Italien verloren gegangen wären, wie es um die
Partei der Grünen in Italien stand, welche Wählerschichten den unerträglichen
Berlusconi wählten. Auf letzteres antwortete ich einmal mit
einem Paradoxon: Berlusconi habe als TV-Unternehmer zuerst die
Hälfte der Italiener mit Quiz, Comedy, halbnackten Frauen, Kochsendungen
, Krimis und Fußball per Fernsehen verdummt, dann eine Partei
gegründet und schließlich allen Italienern Steuererleichterung versprochen
, woran auch die katholische Kirche geglaubt hatte, weil sie von
ihm in der Tat weitgehend von Steuern befreit wurde, auch von Grundsteuern
für die nicht sakralen Immobilien und von Unternehmenssteuern
für Reiseagenturen, Gaststätten, Hotels, Kinos, Schulen und Krankenhäuser
, die sie profitbringend führte.
Wir debattierten, wie sich die Demokratie in Europa entwickele, wie
sich das Verhältnis zwischen den Nationen und der Europäischen Gemeinschaft
gestalte; welche Gefahr das System der politischen Konsensbildung
laufe, wenn eine Partei lange, zu lange an der Regierung bleibt;
wie von Wahl zu Wahl die Versprechungen der Politiker immer unglaubwürdiger
und trotzdem von der Masse der Bürger eher unkritisch
aufgenommen würden; ob man, angesichts der Tatsache, dass unsere
beiden Länder eine so effiziente und profitable Waffenindustrie besitzen
, von deren Exporten so viele Arbeitsplätze im Lande abhängig sind,
nicht wiederum von Militärpolitik anstatt von Sicherheitspolitik reden
sollte?
An manche Gespräche erinnere ich mich besonders gut. Er erzählte
mir einmal von einer Zugfahrt als Soldat durch Polen. An einem Bahnhof
wurde sein Zug angehalten, um einen überlangen Güterzug vorbeifahren
zu lassen, in dem, wie er aus der Ferne sah, nicht Waren oder
Tiere, sondern Menschen transportiert wurden, was er allerdings erst
später genau verstand: Es waren Menschen, die als Juden zu Tieren degradiert
und als solche deportiert wurden. Ein anderes Mal erzählte er
mir von der ersten Zeit der französischen Besatzung des Oberrheins, von
den Übergriffen der marokkanischen Hilfstruppen, die Charles de
Gaulle bei den jeweiligen Volksgruppen in Nordwestafrika persönlich
angeworben und ihnen besondere Plünderungsrechte, Vergewaltigungen
eingeschlossen, eingeräumt hatte, was in denselben Jahren auch in
Italien geschah und wovon Alberto Moravia im Roman La ciociara
(Cesira, 1957) erzählt.
Das Monstrum Krieg macht die Menschen monströs, damit kündigte
Grimmelshausen 1668 seinen Simplicissimus an. Dass sich daran nach
drei Jahrhunderten und nach Kriegen auf europäischem Boden, die
immer blutiger und monströser wurden, nichts geändert hat, daran hat
uns Walter Ernst Schäfer mit seinen grundlegenden Forschungen zu den
zwei Autoren am Oberrhein - Grimmelshausen und Moscherosch - stets
mahnend erinnert, denn er hatte persönlich, schon mit 16, erfahren,
was der Krieg wirklich ist.
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