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Karl Volk
vorstellbar. (Nicht in den Blick genommen wurde, dass das
Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern auch zerrüttet sein
konnte). Doch mit Familie und Heimat allein durfte man Lehrlingen
, deren Bindung an das Elternhaus sich - notgedrungen
- mindestens lockerte, nicht kommen. Natürlich forderte die
Arbeitswelt ihr Recht. Ratschläge, auch fromme, sollten dem
jungen Mann helfen, über die ersten schweren Wochen der
Lehrjahre hinwegzukommen. Dennoch verhehlte das Lesebuch
auch die Schwierigkeiten nicht. Ausführlich schilderte
zum Beispiel Hermann Hesse den ersten Arbeitstag des Lehrlings
Hans am Schraubstock. Wie verschieden Lehrmeister sein
können, erfuhr der junge Leser von Jeremias Gottheit. Der
sonst so sehr mit der Bergheimat verbundene Ludwig Gangho-
fer informierte über das Leben in der Fabrik, Ludwig Finckh
beschrieb den Weg vom Lehrling zur Meisterschaft (jedenfalls
so, wie der Verfasser sich das vorgestellt hatte). In Summa:
Auch Gutmann war offensichtlich der Meinung, das Handwerk
habe einen goldenen Boden, sofern es auf „Gottesfurcht und
Frömmigkeit" fuße.
Doch die Weite des Ausblicks war erstaunlich. Er ging ins
öffentliche Leben, in Berufswelt, Haushalt, Wirtschaft, Volk
und Staat. Dabei fällt auf, sieben Jahre nach Ende des Ersten
Weltkrieges und acht Jahre vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus
wirken die Texte ausgeglichen und friedlich.
Kurz und bündig erfuhr der junge Mann von damals, was
Deutsch sein sollte: „Wir müssen, um es mit einem Worte zu
sagen, uns Charakter anschaffen" (Johann Gottlieb Fichte).
Zwar wurde das Volkstum in den wärmsten Farben geschildert,
die „leidenschaftliche Heimatliebe" gerühmt, der Fleiß der
Menschen in den verschiedenen deutschen Landschaften
ebenso, die Arbeit der jeweiligen Region angepasst, an den
Strömen der Norddeutschen Tiefebene anders als in den Alpen.
Aber die Lehrlinge wurden nicht etwa indoktriniert mit einer
Ideologie, die sie zum Hass gegen die Nachbarvölker anstacheln
sollte. Auch ein systematisches Kapitel über die deutsche
Geschichte fehlt. Dabei erinnerte sich wohl noch jeder an den
Ersten Weltkrieg, an Hunger, Arbeitslosigkeit, Inflation, die
Zügellosigkeit und Verrohung der deutschen Sprache, Letzteres
ein Symptom der allgemeinen Verrohung, die Voraussetzung
für Meuchelmorde an Politikern und späteren millionenfachen
Mord.
Indessen wurde am Ende des Buches eine „Betrachtung am
Sylvesterabend des Kriegsjahres 1915" von Karl Engelhardt aufgenommen
: „Letzte Worte eines Sterbenden ... Ich sah den Tod
in dem feuchten Sande Flanderns, in den Wäldern der Argon-
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