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394 Karl Volk
einmal begegnet ist? Ob sie überhaupt den Wert erkannte, der
ihr hier anvertraut worden war?
Noch einmal: Das Lesebuch war konzipiert für junge Handwerker
, von denen viele gewiss auch künstlerische Begabung
mitbrachten, also auch einen Blick hatten für die Kunst in
ihrer Umgebung: die große Welt der Bauwerke und die kleine
pittoreske Welt des Alltags.
Eine ausgesprochen glückliche Hand bewies der Herausgeber
mit der Aufnahme des utopischen Romans „Der Tunnel"
von Bernhard Kellermann. (Die Unterquerung des Atlantischen
Ozeans von der Biskaya bis in die USA). Er erkannte das
sensationelle Werk, das noch nicht sehr lange auf dem Markt
war, in seiner Bedeutung, heute zählt es zur Weltliteratur. Größere
Aktualität konnte das Lesebuch gar nicht erreichen als
durch den Abdruck einer begeisterten Schilderung des Zeppelinfluges
1924 nach Amerika von Hans Lenz. Natürlich eine
deutsche Pioniertat. Aber der Stolz gab sich bescheiden: Das
Luftschiff sollte dem Frieden zwischen den Völkern dienen
(laut dem erwähntem Grußwort Dr. Hugo Eckeners an die Bevölkerung
von New York).
Doch utopischer Roman und Luftschiff waren noch nicht
alles. Bei künftigen technischen Möglichkeiten allein konnte
das Thema Kunst nicht bleiben. Auch der bildenden Kunst sollten
die Lehrlinge begegnen. Den praxisorientierten Menschen
wurden Kunstwerke vor Augen geführt, die ihnen erreichbar
waren. Voran: Goethes Beschreibung des Straßburger Münsters
, zugleich ein literarisches Beispiel des „Sturm und Drang".
Von Mittelbaden aus ein Katzensprung, nicht so beim Stephansdom
in Wien, den Friedrich Hebbel feierte. Die Hinführung
zur Kunst in jeder Form war ein Ziel des Herausgebers.
Dazu gehörten für ihn die Volkstrachten genauso wie der Hausschmuck
, ja die Anlage ganzer Dörfer und Städte. Kurz und gut:
alles, womit die künftigen Gesellen, Meister und Unternehmer
je zu tun bekommen würden.
Vorbilder sollten junge Menschen aus ärmlichen Verhältnissen
und in beruflichen Schwierigkeiten durch Kurzbiographien
bedeutender Industrieller finden, die allen Widrigkeiten
trotzten: Josef Fraunhofer, Werner Siemens ... In welcher
für einen Berufsanfänger neuen, hochkomplizierten Welt
sich der junge Mensch zurechtfinden musste, wusste der Herausgeber
wohl aus eigener Erfahrung. Die philosophische
Durchdringung dieser Problematik hatte 1923 der Soziologe
Hans Freyer in einer in dem Lesebuch freilich nicht berücksichtigten
Abhandlung vorgelegt: Der Bogen spannt sich vom
zweckmäßigen, kräfteschonenden Gebrauch des Handwerks-
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